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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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ohne zu erklären, warum. Und ich war noch zu wütend auf meinen Vater, der meine kleine Seifenblase zum Platzen gebracht hatte. Er musste falschliegen. Vielleicht hatte er nur vergessen, wie es sich anfühlte. Es gibt einen Grund, warum Revolutionäre jung sind. Drei junge Russen sind eine Revolution. Drei alte Russen sind nur ein Haufen Leute, die in einer Küche herumsitzen und darüber diskutieren, wie viel Kohl in die Suppe gehört.
    Ian lag auf dem Bett und begann wieder zu lesen, doch nach wenigen Minuten legte er das Buch auf den Bauch und starrte die Wasserflecken an der Decke an.
    »Miss Hull, kann ich ein paar Münzen bekommen?«
    »Es ist zu spät für Süßigkeiten.«
    »Nein, nicht für Süßigkeiten, für etwas anderes. Ich kann es dir nicht erzählen. Es ist ein Geheimnis.«
    »Wie viel?«
    »Ein paar Dollar oder so.«
    Ich erinnerte mich an das Münztelefon in der Lobby, und mein Herz sank durch das Bett bis zum Boden. Ich warf ihm mein Portemonnaie zu und schloss die Augen, hörte, wie er das Kleingeld zählte, das Zimmer verließ und den Schlüssel mitnahm.
    Also war es vorbei.
    Er würde nicht die Polizei anrufen, dafür hätte er kein Geld gebraucht. Es sei denn, er wusste nicht, dass solche Gespräche kostenfrei waren. Vermutlich würde er eher einen Lehrer, seine Eltern oder irgendeine Tante oder einen Onkel anrufen. Vielleicht die Bibliothek, wer konnte es wissen. Oder Pastor Bob. Das Einzige, was ich tun konnte, war durchatmen, und das tat ich fünf Minuten lang. Es war vorbei. Wenn er zurückkam und sagte, es sei vorbei, es komme jemand, um ihn abzuholen, dann war’s das gewesen. Ich würde die Grenze zu einer tatsächlichen Entführung nicht überschreiten.
    Als er mit gefaltetem Papier in der Hand zurückkam, dachte ich, es sei ein kleines Telefonverzeichnis. Auch als er es auf dem Tisch auseinanderfaltete, konnte ich die Linien nicht erkennen, die winzigen Seen, die Wörter. Es war eine gerichtliche Zwangsvorladung, ein Bild vom Gefängnis, eine pinkfarbene und grüne Hölle. In Wirklichkeit war es eine Karte der Provinz Quebec.
    »Nein«, sagte ich. »Wir fahren nicht nach Kanada. Das hatten wir doch schon.«
    Er rollte mit den Augen. »Hältst du mich für dumm? Sie würden uns an der Grenze verhaften. Aber ich glaube, ich habe eine Lösung.«
    »Was, bitte?«
    »Lies dein Buch weiter. Ich werde es dir gleich sagen.«
    Ich legte mich hin und hielt das Buch über meinen Kopf, mit der anderen Hand tastete ich über die weiche Polyesterdecke und begriff langsam, dass es noch nicht vorbei war. Das Buch war Anna Karenina , aus der Bibliothek von Lynton. Ich glaube, ich hatte mir ein Buch gewünscht, dessen schreckliches Ende ich von der ersten Seite an voraussehen konnte, ein Buch, das die Hoffnung auf ein Happy End, das nicht kommen würde, gar nicht erst am Leben hielt.
    »Jetzt hab ich’s«, sagte er. Er fing an zu kichern, sein Gesicht rötete sich. Er nahm ein Kissen, und hielt es sich mit beiden Händen über den Kopf. Seine Brille fiel herunter, er lachte.
    Ich ging hinüber, um mir anzusehen, was er gefunden hatte, und er deutete mit seinem kleinen Finger auf ein Pünktchen neben einer großen grünen Fläche, ein paar Kilometer nördlich der Grenze zu Vermont. Da stand es: Havre.
    Ich brauchte eine Sekunde. »Du glaubst also, das ist alles dort passiert – du denkst, dass deine Großmutter eine Kanadierin war.«
    »Nein.« Er lachte wie jemand, der gerade etwas Unmögliches gewonnen hat – ein Königreich, den Jackpot im Lotto. Oder vielleicht auch wie jemand, dem gerade sein Haus niederbrennt. »Du kapierst es nicht, oder? Sie haben verloren. «
    Als er zum Zähneputzen ging, war mir zum Heulen zumute. Es war der Hunger, die Müdigkeit und der Stress, und mehr als alles andere war es das Menetekel. Ich hatte nach einem Zeichen gesucht, nach der toten Großmutter-Soldatin, damit sie uns etwas sagte, und hier war es. Nicht: Versuch es , nicht: Verlass dich drauf, dass alles gut wird , kein: Kämpfe weiter , sondern ein Du wirst verlieren. Und es war wahr, auch mein Vater schien zuzustimmen, und es war das Einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt deutlich sehen konnte. Die Tapete war unscharf, die Zahlen der Digitaluhr waren ein einziger roter Streifen, der Spiegel war ein greller, gelber Fleck, aber dies war endgültig: Du kannst nicht weitermachen, du kannst nicht zurückkehren und du kannst nicht hierbleiben. Was hast du dir dabei gedacht, mit deinem Sack voller Kartoffeln? Wie

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