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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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ich würde früher aussteigen müssen, irgendwo in Illinois, ohne Auto, ohne Geld und nicht in der Nähe von Chicago. »Das ist wirklich eine Notsituation«, sagte ich. »Seine Mutter – ich bin nicht seine Mutter – ist sehr krank.«
    Der Mann schüttelte den Kopf.
    »He!«, sagte eine Stimme hinter uns. »Macht euch keine Sorgen! Ich bin rechtzeitig hier angekommen!« Ein breiter russischer Akzent.
    Es war Mr Sonnenbrille. Die Sonnenbrille sogar hier drinnen noch im Gesicht.
    Ich starrte ihn an, seine Stirn über der Sonnenbrille, die Wangenknochen, die Bartstoppeln, die dünnen Lippen – aber ich kannte ihn nicht, er war weder ein Cousin noch ein Freund der Familie, kein anrüchiger Geschäftspartner meines Vaters aus der russischen Chicagoer Clique. Er sagte zu dem Kassierer: »Ich fahre mit dem Jungen. Wir fahren nach Missouri, ja, okay?« Mein Instinkt sagte, ich sollte Ian packen, durch die Tür »Nur für Angestellte« verschwinden und von innen abschließen. Aber Mr Sonnenbrilles linke Hand steckte in seiner Blazertasche, und ich nahm an, er hatte eine Waffe.
    »Von mir aus, sei’s drum«, sagte der Mann hinter dem Schalter und schaute mich an, um sich zu vergewissern, dass alles seine Richtigkeit hatte, und ich war gezwungen, zustimmend zu nicken. »Ein Kind, ein Erwachsener.« Er tippte den Fahrpreis ein. Mr Sonnenbrille zog ein Portemonnaie aus Alligatorleder aus seiner linken Blazertasche und bezahlte mit drei funkelnagelneuen, knisternden Hundertdollarscheinen. Ian sah noch erschrockener aus als ich, aber er war kaum beeindruckt von dem Geld. Ich legte meine Hände auf seine Schultern.
    Nachdem der Kassierer unserem russischen Schlepper die Fahrkarten und die Quittung überreicht hatte, gingen wir zu dritt in die am weitesten entfernte Ecke des Bahnhofs, tapsig und langsam, und jeder von uns schaute die beiden anderen an, um sicherzustellen, dass wir den Eindruck einer zusammengehörigen Gruppe hinterließen. Drei alte, laute Damen in grünen T-Shirts trennten uns jetzt vom Schalter.
    »Hören Sie«, sagte der Mann. »Ich tue ihm nichts. Sie haben mir gesagt, Mr Hull wird mich umbringen, wenn ich ihn anfasse. Ich habe überhaupt nicht vor, ihn anzufassen, ist das klar? Ja? Ich sitze nur hinten im Bus. Ich bin wie Rosa Parks, ja? Hinten im Bus. Ich will mich nicht mit Mr Hull anlegen, das können Sie mir glauben.«
    »Sie kennen Mr Hull?«, fragte Ian. »Den Mann mit den Hörnern?«
    Ich sagte: »Sie haben uns bei Walgreens fünfzig Dollar gegeben.« Mir fiel auf, dass ich während der ganzen Zeit Ians Schultern festhielt und meine Fingernägel in sie grub.
    Endlich nahm er die Sonnenbrille ab. Er hatte schmale grüne Augen. »Schauen Sie, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen! Sie sind eine sehr schöne Frau, Lady, ja, und ich wollte Sie nicht erschrecken!« Er gab mir eine Visitenkarte, auf der »Alexej Andrejew« stand, und darunter, statt einer Berufsangabe: »zuverlässig, diskret« . Er sagte: »Ich habe schon oft für Mr Leo Labaznikow gearbeitet, und ich mache nie einen Fehler.«
    Ich war so dumm gewesen, zu glauben, dass die Zigarren in der Schuhschachtel für einen Gefallen in der Vergangenheit oder in der Zukunft bestimmt waren. Sie waren für einen Gefallen in der Gegenwart bestimmt. Vermutlich war ein Haufen Geld in der Schuhschachtel gewesen. Und die Labaznikows hatten uns an jenem Morgen wohl nur deshalb so lange aufgehalten, weil sie auf Mr Sonnenbrille gewartet hatten. Obwohl ich nicht wusste, wie mein Vater auf die Idee gekommen war. Wieso war ich sechsundzwanzig Jahre lang immer wieder auf seine Lügen hereingefallen, wenn er auf meine noch nicht mal zehn Minuten hereinfiel?
    Alexej Andrejew griff in die andere Tasche seines Blazers und reichte Ian ein schwarzes, glänzendes Handy, eines von der neuen, schlanken Sorte. »Das ist extra. Gut? Der Junge kann es testen, überzeugen Sie sich, dass es funktioniert, er kann es während der ganzen Fahrt in der Hand halten.«
    »Und was machen Sie mit Ihrem Wagen?«, fragte ich.
    Er lachte: »Das ist ein Wegwerfartikel.«
    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon ziemlich entspannt. Wer immer dieser Mann war, was für eine Ausbildung oder was für eine kriminelle Vergangenheit er hatte, er war eindeutig und unverrückbar auf meiner Seite. Obwohl ich es verabscheute, das Geld meines Vaters anzunehmen, das aus den zweifelhaften Geschäften seines russischen Schwarzmarkts in Chicago stammte, befand ich mich nun nicht in der Situation, dass

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