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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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von mir halten würden, wenn sie Bescheid wüssten. Würden sie nur meine Taten sehen und nicht die zweifelhaften, von Selbsthass erfüllten Gedanken, die sie begleiteten, sie würden mich für eine Heldin halten. Und ich dachte an die Flucht meines Vaters – die echte Flucht, die selbstgerechte, kartoffelstopfende, traktatschreibende Flucht, bevor Ilja starb, bevor alles Revolutionäre zu Verzweiflung wurde. Es lag mir im Blut, in den dicken russischen Venen der Hulkinows, dieses Bedürfnis zu kämpfen. Im Gefängnis würde ich es mir in den Rücken tätowieren lassen: Stirb bei der Verteidigung.
    Ich schaute zu Ian hinüber. Er lag flach auf dem Bett, mit ausgestreckten Armen, und hielt Die 21 Ballone über seinen Kopf, ein Drittel hatte er schon verschlungen. Seine Arme waren schmutzig, und seine nackten Füße sahen aus, als hätte er sie seit Wochen nicht gewaschen. Ich sagte: »Ian, macht es dir was aus, wenn ich dich frage, wann du zum letzten Mal geduscht hast?«
    Er verzog das Gesicht. »Ich mag Hotelduschen nicht, sie sind glitschig, und es ist gefährlich, ich könnte in der Badewanne ausrutschen. Aber ich habe bei den Leuten mit den Frettchen geduscht, erinnerst du dich?«
    »Wir treffen ein Abkommen. Du wirst jetzt duschen, und wenn du in der nächsten halben Stunde nicht herauskommst, rufe ich einen Krankenwagen.«
    »Wenn ich das Kapitel zu Ende gelesen habe.«
    Dagegen konnte ich nichts einwenden. Als er endlich ins Badezimmer ging, meldete ich vom Hoteltelefon aus ein R-Gespräch mit meinem Vater an.
    »Hast du kein Geld mehr? Hör zu, ich lasse Ophelia, meine schwarze Sekretärin, tausend Dollar auf dein Konto überweisen, ja?«
    »Ich möchte kein Geld.« Ich war nicht sicher, ob das stimmte, aber ich konnte meine Meinung immer noch ändern, und er würde mir dann immer noch bereitwilligst unter die Arme greifen.
    »Hach! Du hast doch immer Geld gebraucht, wenn du mit einem R-Gespräch angerufen hast! Wer bezahlt dieses Gespräch?«
    Ich erkundigte mich nach seinem Befinden und entschuldigte mich dafür, dass ich ihn neulich nachts irritiert hatte.
    »Man ruft niemanden an, wenn er betrunken ist.«
    »Aber ich finde, was du getan hast, war sehr mutig, und das wollte ich dir auf jeden Fall noch sagen. Du hättest deine Vergangenheit dazu nutzen können, um dich mit der Partei gutzustellen, und du hast es nicht getan. Und ich bin neulich Nacht nicht dazu gekommen, es dir zu sagen.«
    Mein Vater begann leise zu sprechen, zumindest für seine Verhältnisse, ein sicheres Zeichen dafür, dass meine Mutter im Nebenzimmer war. »Lucy, glaubst du etwa, es sei heldenhaft gewesen, wie ein Verrückter mit Kartoffeln und diesem lächerlichen Buch herumzurennen? Das ist das Problem mit dir, du liest und liest, aber du hörst nicht zu, was Menschen mit dem Mund sagen. Und du verstehst nicht, was ich sage: Dieser Kampf war dumm. Was hat er erreicht? Ilja wurde getötet, und ich habe Kartoffeln vergeudet. Habe ich dem Kommunismus ein Ende gemacht? Hat sich Chruschtschow im Namen des Staates bei meiner armen Mutter entschuldigt? Und meine Mutter hat beide Söhne verloren. Denn danach konnte ich nicht zurück, und sie konnte nicht heraus.«
    Meine Großmutter ist gestorben, als ich zwei war, bevor sie mich überhaupt kennengelernt hat. Ich habe nie lange an diesen Teil der Geschichte gedacht, an die Frau, die ihren Mann verlor, dann den einen Sohn und schließlich den anderen. Damals war ich allerdings mit anderen Dingen beschäftigt. Und vielleicht habe ich erfolgreich den Teil des Gehirns blockiert, der für Eltern und ihre verschwundenen Kinder zuständig ist.
    Mir fiel keine Antwort ein, die sich nicht irgendwie dumm angehört oder alles noch schlimmer gemacht hätte. Deshalb sagte ich: »Es gibt eine Sache, die du für mich machen kannst. Falls jemand nach mir fragt, kannst du dann vergessen, dass ich bei euch war? Ich brauche eine Auszeit, eine friedliche, und ich möchte nicht aufgespürt werden. Weder von der Arbeit noch von sonst jemandem.«
    »Das habe ich bereits getan!« Er hörte sich an, als sei er stolz auf sich. »Ein Freund von dir hat hier angerufen und sich nach dir erkundigt. Seine Stimme verhieß nichts Gutes.«
    »Rocky Walters?«
    »Ja, irgend so ein komischer Name.«
    »Ich danke dir.«
    Ian kam aus dem Badezimmer, seine nassen Haare zu einem Irokesen aufgestellt. Er trug das rote T-Shirt, das in dem Polizeibericht erwähnt war, aber ich konnte ihn nicht bitten, das T-Shirt zu wechseln,

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