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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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mehr. »Zähl das Wechselgeld«, sagte ich und gab ihm meine Tupperdose mit dem Kleingeld. Er kippte die Münzen auf seinen Schoß und baute kleine Häufchen.
    »Rate mal, wie viele Dollar wir haben«, sagte er zum Schluss.
    »Ungefähr zwei.«
    »Nein, einen. Plus zwanzig Cent. Aber du könntest auch sagen, wir haben einen Dollar hoch eine Million. Dann könnten wir sagen, dass wir Millionäre sind.«
    An jenem Nachmittag, als ich ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, verging die Zeit schneller, und die Umgebung wurde hübscher, als wir durch Vororte von Chicago fuhren. Meine Eltern wohnten am Lake Shore Drive, in einer Wohnung, die mehr gekostet hatte, als ich in fünfzig Jahren verdienen konnte. Normalerweise redete ich nicht darüber. Und selbstverständlich nahm ich auch kein Geld von meinen Eltern, schon weil ich sicher war, dass mein Vater das meiste illegal verdient hatte, nicht mit Immobilien. Die russische Mafia in Chicago ist größer, als man annimmt.
    Ich glaube kaum, dass mein Vater irgendjemandem weh getan hatte, nicht physisch, aber er pflegte doch einen seltsamen Umgang mit Zahlen. Nullen wurden aus dünner Luft heraufbeschworen, Dezimalpunkte änderten ihre Position, ganze Bankkonten wurden gelöscht oder erfunden. Sein Freund, der Reisebürobesitzer, war in den achtziger Jahren im Gefängnis gelandet, weil er für seine Freunde falsche Quittungen ausgestellt hatte. Sein Freund, der Restaurantbesitzer, war vor einigen Jahren für immer verschwunden.
    »Wow, das ist alles geschnitzt!«, sagte Ian, als wir anhielten. Er meinte das Gebäude mit seinen aufwendigen Ornamenten über der Eingangstür. Ich hatte den Aufkleber immer noch am Auto, so dass wir direkt zur Garage durchgewinkt wurden und auf dem leeren Parkplatz meiner Eltern parkten.
    »Warst du schon mal in Chicago?«, erkundigte ich mich. Ich war, als wir in die Stadt fuhren, zu sehr in meine eigenen Gedanken versunken gewesen, um ihm diese Frage zu stellen. Und er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, seinen Kopf aus dem Fenster in die kalte Luft zu halten, um die Giebel der Häuser zu betrachten.
    »Nein, aber ich war oft in St. Louis. Aber nicht in den interessanteren Stadtteilen.«
    Wir fuhren mit dem neuen blitzenden Aufzug zum vierzehnten Stock, und ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer mit seiner Sitzgarnitur aus weißem Leder und dem Kaffeetisch aus Glas. Die Fenster gingen auf den halb zugefrorenen Michigansee hinaus.
    »Cool!«, sagte Ian, beugte sich über die Rückenlehne der weißen Couch und drückte Hände und Gesicht ans Fenster. »Können wir auf dem Balkon essen?« Es war schon fast Zeit für das Abendessen.
    »Zu kalt. Eine windige Stadt.«
    Ich zeigte Ian, wie der Fernseher funktionierte, bereute es aber sofort, als mir einfiel, er könne sich in den Nachrichten entdecken, doch dann entspannte ich mich, als er einen Kindersender fand. Ich ließ ihn gewähren, ging duschen und zog eine weiße Bluse, einen blauen Wollcardigan und eine Khakihose meiner Mutter an. Die Sachen waren mir einige Nummern zu groß, aber es war so gut, wieder sauber zu sein, dass es mir nichts ausmachte. Ich steckte meine schmutzigen Kleidungsstücke in die Waschmaschine, die in dem großen Badezimmerschrank untergebracht war. Ian wollte seine Sachen separat waschen, und zwar selbst.
    Im Tiefkühlfach fanden wir Spinatravioli und in der Speisekammer ein Glas Tomatensoße. Für mich öffnete ich eine Flasche Syrah, die mit Sicherheit sehr teuer war.
    »Bist du Alkoholikerin?«, fragte Ian.
    »Noch nicht«, sagte ich.
    Wir saßen an dem langen Esstisch. Ian war außerordentlich begeistert, weil er durch die Glasplatte seine Füße sah, und tat ständig, als würde er die Teller von unten treten. »Bist du hier aufgewachsen?«, fragte er.
    »Ja, seit ich zwei war. Immer in derselben Wohnung.«
    »Wo ist dein Zimmer?«
    »Sie haben eine Bibliothek daraus gemacht. Ist das nicht lustig? Ich zeige es dir später.«
    Draußen war es jetzt dunkel, und ich liebte es, wenn die Nacht die Fenster in schwarze Spiegel verwandelte. Alle paar Minuten heulten die Sirenen – ein Geräusch, das ich immer mit zu Hause assoziierte und nicht mit einer Tragödie, sogar jetzt, als ich dachte, sie kämen vielleicht meinetwegen. Am Nachmittag, noch auf der Autobahn, hatte mich ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen überholt, und mir hatte es fast den Atem verschlagen. Von hier oben aus bedeuteten die Geräusche der entfernten Rettungswagen nur die ständigen und beruhigenden

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