Ausgeliehen
Akzente im Lärm der Stadt, eine Erinnerung daran, dass das Leben auch ohne uns weiterging, das galt auch für den Tod, und die meisten Menschen auf der Welt hatten anderes im Kopf als eine unglückliche sechsundzwanzigjährige Bibliothekarin und einen Jungen, den sie ungewollt entführt hatte. Ich liebte es, hier zu stehen, vierzehn Stockwerke über der Stadt. Ich dachte an Robert Frost: »Ich wollt der Erde gern einmal entrinnen.« Wolkenkratzer, Birken, ein schönes, großes Glas Wein.
»Ich habe eine Frage«, sagte Ian. »Wenn du hier aufgewachsen bist, wie konntest du je Sport machen?«
»Ich habe in der Schule Sport gemacht, und im obersten Stock gibt es einen Trainingsraum.«
»Aber was war mit den Wochenenden?«
»Nichts. Manchmal habe ich mit meinem Vater die Barhocker als Tore aufgestellt, und wir haben mit einem Wasserball Fußball gespielt. In Russland ist Fußball eine große Sache.« Ich hatte ihm bereits früher von der Flucht meines Vaters erzählt.
»Können wir das auch ausprobieren?« Ich war überrascht, dass es für ihn so wichtig war. Mir fiel ein, was Sophie Bennett über seinen Koordinationsmangel gesagt hatte, als sie vom Cancan-Tanzen erzählt hatte. Doch schließlich war er ein zehnjähriges Kind, das in den letzten zwei Tagen wenig Bewegung gehabt hatte, außer auf Autobahnparkplätzen.
»Klar«, sagte ich. »Aber ich glaube nicht, dass wir hier noch Wasserbälle haben.«
»Wir könnten auf jeden Fall einen Stoffball machen, definitiv.«
Nachdem wir den Tisch abgeräumt hatten, suchten wir in der Schublade meines Vaters weiße Unterhemden, und Ian bastelte daraus mit Hilfe eines Bindfadens einen Ball. Wir rückten die vier Barhocker zu zwei Toren auf beiden Seiten des Wohnzimmers und jeder von uns stellte sich in ein Tor. Dann kickten wir den Stoffball hin und her, jeder durfte einmal auf das gegnerische Tor schießen. Er war nicht besonders gut, ich aber auch nicht. Nach jedem fünften oder sechsten Schuss begann der Ball auseinanderzufallen, und Ian musste ihn wieder reparieren.
»Spielst du zu Hause auch Fußball?«, fragte ich.
»Nein. Wenn ich schulfrei habe, spiele ich etwas, was ich Ian-Ball nenne. Aber ich kann es dir nicht zeigen, weil es hier keine Müllcontainer gibt.«
In der Tür wurde ein Schlüssel umgedreht, und Ian erstarrte, über den Ball gebeugt, den er gerade wieder zusammengebunden hatte. »Das ist die Putzfrau!«, sagte ich, aber noch bevor ich die Stimme meines Vaters hörte, wurde mir klar, dass es für Krystyna, die Putzfrau, schon viel zu spät war.
»Vater!«, sagte ich laut, bevor er uns entdecken und einen Herzschlag bekommen konnte. »Vater, wir sind hier.« Meine Mutter kam zuerst herein, mit weit aufgerissenen Augen. Über ihrer Schulter hing ihre lederne Reisetasche, und ihre Haare waren plattgedrückt und sahen aus, als hätte sie im Flugzeug geschlafen.
»Lucy!«, sagte sie und kam mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Dabei fiel ihre Tasche zu Boden. »Schätzchen, was ist passiert? Wir haben dein Auto gesehen. Um Gottes willen, du siehst ja furchtbar aus.«
»Mir geht es gut, alles in Ordnung«, sagte ich.
»Wir sind früher zurückgekommen, dein Vater hat eine Magenverstimmung, frag lieber nicht.« Als sie mich umarmte, kam mein Vater herein, mit seinem großen russischen gelben und zerknitterten Grinsen auf dem Gesicht. »Großer Gott«, sagte er, »und wer ist dieser neue Freund?«
Bevor Ian etwas Albernes sagen konnte, antwortete ich: »Oh, erinnert ihr euch an meine Schulfreundin Janna Glass?«
Janna Glass war tatsächlich mit mir auf die Chicago Latin gegangen, ein Mädchen, das einmal von meinem Teller Pommes gestohlen hatte, der Name fiel mir zufällig ein, und ich wusste, er würde meinen Eltern nichts sagen. Sie schüttelten den Kopf.
»Das ist Ian, ihr Sohn.« Warum hatte ich Ian gesagt? Warum nicht irgendeinen anderen Namen?
Ian streckte meinem Vater die Hand entgegen. »Ian Glass«, sagte er. »Ian Bartholomew Glass.«
»Sie ist im Krankenhaus, deshalb helfe ich ihr. Und wir sind hierhergekommen, um ein bisschen Abwechslung zu haben.«
»Was ist mit ihr?«, fragte meine Mutter taktvoll. Sie zog ihren schweren grünen Tweedmantel aus, und ich spürte die Kälte, die er verströmte.
»Meine Mutter hat versucht, sich umzubringen«, sagte Ian. Er war ein guter Lügner, stellte ich fest, und ein sehr besonnener Lügner noch dazu. »Mein Vater ist mit einem Flittchen abgehauen, deshalb hat sie versucht, sich mit Tabletten
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