Ausgeliehen
große Liebe.«
»Schaut ihn euch an«, rief meine Mutter von der Bibliothek herüber, »und jetzt ist er Diabetiker.«
»Stattdessen hatten wir hellbraune Schokolade, die wie Kreide schmeckte. Man konnte sie fünf Stunden in der Hand halten, ohne dass sie schmolz. Aber als ich siebzehn Jahre alt wurde, durfte mein Onkel in die Schweiz reisen, und er schmuggelte für mich wunderbare, echte Schokolade ins Land. Sie war fast schwarz und roch nach Wald. Nicht wie diese alberne amerikanische Durchschnittsschokolade. Du magst doch Schokolade, oder?«
Als Antwort hechelte Ian wie ein Hund.
»Dann verstehst du ja, was ich meine. Ich verschlang meine Schokolade und erzählte meinen Freunden davon. Doch sie glaubten mir nicht! Dann kam ich auf die Idee, an die ganze Stadt Schokolade zu verkaufen. Und weißt du, was das Problem war?«
Ian schüttelte den Kopf.
»In der UdSSR durfte man kein eigenes Geschäft eröffnen. Ich musste es heimlich machen. Ich ging also zu meinem Freund Sergej, und der konnte alles, was er wollte, auf dem Schwarzmarkt besorgen, einschließlich Schokolade. Er war der Einzige, der Jazzschallplatten besorgen konnte.«
»Was ist ein Schwarzmarkt?«
»Schwarzmarkt ist, wenn ich dir etwas verkaufe, aber heimlich, weil das gegen das Gesetz ist.«
»Wie Drogen?«
»Nein, wie Jazzschallplatten. Gut. Also betrieben Sergej und ich eine Schokoladenfabrik bei uns zu Hause im Keller. Wir fanden heraus, dass es billiger war, große Blöcke zu kaufen, und so kauften wir ganze Ziegel von Schokolade, so groß wie eine Enzyklopädie. Wir mussten sie mit einer Schubkarre in den Keller transportieren. Dann nahmen wir einen Hammer und einen Holzkeil, zerkleinerten die Schokolade und schmolzen sie auf dem Ofen zu einer Schokoladensuppe.«
Ian rieb sich den Bauch vor Bewunderung.
»Dann gossen wir die Suppe in eine Form, die Sergej angefertigt hatte, und erhielten zweihundertfünfzig Schokoladenriegel von der Größe meines Fingers.« Er hob dabei seinen verkrümmten Zeigefinger. »Ich muss dir sagen, das war keine gute Idee. Die Schokolade wird grau, wenn man sie auf diese Art und Weise zum Schmelzen bringt, aber sie war trotzdem besser als das, was es sonst so gab. Wir verpackten sie in Papier, auf dem ›Leningrader Schokoladenfabrik‹ stand. Nun, wir waren nicht in Leningrad, aber das sollte die Sache verschleiern. Wir verkauften die Schokoladenriegel an andere Jungen. Den Mädchen trauten wir nicht. Einige Jungen gaben uns Geld, andere tauschten zum Beispiel Schokolade gegen Toilettenpapier.«
Diese Bemerkung konnte Ian nicht unkommentiert durchgehen lassen. »Toilettenpapier?«
»Die schlechte Sorte war wie Kaktus. Die gute Sorte war mehr wert als Gold. Wir verkauften so viel Schokolade, dass keiner mehr die ekelhafte alte Schokolade in den Geschäften kaufen wollte. Wer unsere Schokolade gegessen hatte, wollte die schreckliche Kreide nicht mehr anrühren. Es dauerte nicht lange, da kam der Bürgermeister dahinter, dass die Geschäfte keine Schokoladenriegel mehr verkauften, und er schickte Josef Stalin einen Brief mit den Worten: ›In meiner Stadt sind die Bürger so fröhlich, dass sie keine Süßigkeiten mehr brauchen!‹ Das hat Stalin Mut gemacht! Er dachte: ›Aha, es hat funktioniert! Mein Plan für ein besseres Russland geht auf!‹« Mein Vater lachte. »Wer weiß, vielleicht wäre ohne meine Schokoladenriegel alles ganz anders gekommen.« Doch er sagte es mit einem solchen Schmunzeln, dass nicht einmal Ian seine Worte ernst nehmen konnte.
»Wurden Sie erwischt?«
Er lachte. »Bald darauf hatte ich in der Schule viel zu tun, deshalb mussten wir die Schokoladenfabrik schließen. Aber ich war immer auf dem Schwarzmarkt. Ich konnte für meine Kunden guten Wodka besorgen, Bier, Zigaretten, Kaugummi, Magazine mit nackten Frauen. Ich war ein sehr reicher Junge.« Ich war schockiert – nicht weil er einem zehnjährigen Jungen von nackten Frauen erzählte, sondern weil er seine Geschichte neu erfunden hatte. Er hatte auch früher immer wieder übertrieben, aber nie zuvor hatte er seine Geschichte so sehr verändert. Er musste der Geschichte Ian zuliebe ein besseres Ende verpasst haben als das mit der Kartoffel im Auspuffrohr. Vielleicht ahnte er, dass wir keine Geschichte brauchen konnten, in der man geschnappt wird.
»Warum haben Sie Russland verlassen, wenn Sie reich waren?«, erkundigte sich Ian.
»In der UdSSR war niemand wirklich reich. Denn was konnte man schon mit Geld anfangen? Einen
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