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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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immer blinzelte, um sich zu vergewissern, dass ich ihn auch beobachtete. Doch heute Abend schien ihm Leos Witz als Gebet zu reichen.
    Er beeindruckte die Labaznikows mit der Litanei der Hauptstädte der Welt. Er kannte auch die neuen Hauptstädte – Taschkent, Duschanbe, Zagreb. Marta klatschte in die Hände und gab ihm noch mehr Salat.
    Nachdem wir Kekse zum Nachtisch gegessen hatten, sagte Marta: »Ich zeige euch eure Zimmer.« Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, zu bleiben, doch schließlich bedeutete es eine Nacht ohne Hotelrechnung. Sie brachte Ian in ein kleines Gästezimmer und mich in Anjas altes Zimmer, das noch immer so war, wie Anja es mit siebzehn Jahren verlassen hatte. Skizzen von Händen und Füßen waren mit Reißzwecken an die Wände geheftet. Liebesromane und Schulbücher teilten die Regale mit einer Schneekugel, einer afrikanischen Maske und einer Flasche mit farbigen Sandschichten. Ich fragte mich, ob sie nach ihrem Ausreißen das Zimmer je wieder betreten hatte.
    Ich schnüffelte mich durch ihre Klamotten, die im Schrank hingen. Die Hefte von der Highschool waren in eine Schreibtischschublade gestopft: »Salingers Gebrauch der Hyperbel in Der Fänger im Roggen «. Ich erinnerte mich, dass ich einmal mit Anja in einem Keller Monopoly gespielt hatte, während die Erwachsenen oben aßen und tranken. Sie begann zu weinen, als ich ihr den letzten Fünfhunderter nahm, und behauptete dann, es wäre eine Allergie. Sie sagte: »Bestimmt gibt es hier irgendwo eine Katze.«
    Mir kam die Idee, dass niemand irgendetwas aus diesem Zimmer vermissen würde. Ich durchkämmte Anjas Schrank und suchte mir die wenigen Sachen heraus, die nicht schwarz und klobig waren. Ich fand einige T-Shirts, drei anständige Pullis und eine zerrissene Jeans. In der Sockenschublade gab es nur Einzelstücke, aber ich nahm trotzdem einige mit. Vom Regal nahm ich Bücher für Ian – Johnny Tremain und eine Biographie von Heinrich VIII . mit Anne Boleyns lächelndem Gesicht auf dem Cover, im Begriff, geköpft zu werden. Ich legte die Sachen in die Einkaufstasche, die ich als Koffer benutzte, dazu einen Flaschenöffner, ein Notizheft, einen Waschlappen, eine Taschenlampe, eine Tupperdose, ein Flakon mit abgestandenem Parfüm gegen den Pommesgeruch im Auto und zehn Mixkassetten, bestimmt ohne die australische Hymne. Ich öffnete ihr Sparschwein, das die Form einer Biene hatte und auf ihrem Nachttischchen stand, und war überrascht, Geldstücke zu finden – lassen Ausreißer Geld zurück? –, bis ich feststellte, dass es kanadisches Geld war. Ich konnte sie mir gut vorstellen, wie sie in der Nacht, bevor sie abhaute, auf ihrem Bett saß, sorgfältig die amerikanischen Geldstücke heraussuchte und überlegte, wie weit sie damit mit dem Bus kommen würde. Ich steckte die Geldstücke in die Tasche. Falls ich nach Kanada ausweichen müsste, könnte ich wenigstens die Mautgebühren bezahlen.
    Ich zog ein weißes, dünnes Nachthemd an und darüber ein graues Sweatshirt. Beides roch muffig, aber es war besser, als wieder in Kleidern zu schlafen. Ich lag auf dem Bett und rief Tim an. Mit jedem Tag, der verging, würde sich die Post in meinem Briefkasten anhäufen, bis die Briefträgerin sie einfach auf den Fußboden werfen müsste. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Presse meine Nachbarn mit Fragen behelligen würde, ob ich eher der ruhige Typ sei, der viel für sich bleibt. Ich hielt den Atem an, während es tutete, und erwartete fast, dass die Polizei sich meldete.
    »¡Hola! ¿Quién es?« , rief Tim. Im Hintergrund lief laute Musik.
    »Ich bin’s, Lucy«, sagte ich.
    »Wer?«
    »Lucy.« Ich versuchte, nicht zu schreien.
    »Lucy!«, rief Tim. »Tut mir leid, Süße, ich drehe die Musik leiser.«
    »Was?«
    »Tut mir leid. Es ist Lennys Geburtstag! Komm doch rüber, wenn du Lust hast.«
    »Oh, nein. Nein, ich bin wetterfühlig.«
    »Oh, Süße, das tut mir leid. Wir werden die Musik leiser stellen, damit du schlafen kannst. Brauchst du etwas?«
    »Nein, danke, alles in Ordnung.«
    »Okay, ciao, bella !«
    Für einen Moment fragte ich mich, ob die richtige Lucy Hull immer noch in Hannibal war, in ihrem eigenen Bett lag und Wodehouse, Highsmith oder Austen las, der spanisch-italienischen Fiesta bei Tim lauschte und einzuschlafen versuchte. Und der richtige Ian Drake saß im Schneidersitz auf dem Boden seines Kinderzimmers und verwandelte ein Arbeitsheft von Pastor Bob in ein irisches Origami-Kleeblatt.
    Und wir, die wir die ganze

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