Ausgeliehen
uns das Foto einer Halbwüchsigen in einer türkisfarbenen Bluse mit einer Frisur aus den achtziger Jahren hin. »Erinnerst du dich an diese Schönheit?« Ich erinnerte mich. Sie war so alt wie ich, und ich wusste noch, dass meine Eltern erzählt hatten, sie habe Drogen genommen und sei von zu Hause weggelaufen. »Jetzt hat sie zwei Kinder! Eins ist fünf, das andere zwei Jahre alt. Zwei Jungs! Und keinen Mann!« Ian betrachtete ein Foto, das am Rand der Kommode stand. »Und das ist die kleine Dora!«, sagte Leo. Ian nahm das Foto in die Hand. Es war ein Studioporträt eines Frettchens, sein Gesicht füllte fast den ganzen Rahmen aus, der Hintergrund war blau gesprenkelt. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht schallend zu lachen.
Ian hielt sich das Bild ganz nah vors Gesicht: »Ist das Ihr Frettchen?«
»Dora ist 1998 gestorben.« Er deutete auf ein anderes Foto. »Das hier ist Clara, sie ist noch bei uns.« Er zeigte uns ein anderes Foto, einen Schnappschuss von Marta, die sich das Frettchen an die Wange hielt. »Und das ist Levi, und das ist Valentina.« Jetzt sah ich, dass die Hälfte der Bilder Aufnahmen von Frettchen waren oder Familienfotos, in denen ein Frettchen als Fellball auf Leos Schoß lag. Was ich gerochen hatte, war der Geruch von Frettchen und den dazugehörigen Nebenprodukten.
»Anja liebte Frettchen, als sie dreizehn Jahre alt war, seither haben wir Frettchen. Anja war damals sehr traurig und schrieb wunderschöne Gedichte. Ich kann sie dir später zeigen. Wir mussten sie glücklich machen, und so kamen wir letztlich auf diese Tiere.«
»Teenager sind gefährlich«, sagte Ian.
Leo grinste und gab Ian einen Klaps auf den Rücken. Er rief: »Ich mag ihn!« Leos Englisch war viel flüssiger als das meines Vaters, obwohl beide zur gleichen Zeit in Amerika angekommen waren und aus derselben Stadt stammten. Leos ältere Schwester war die Babysitterin meines Vaters gewesen, und seine erste (unerwiderte) Liebe.
Nachdem wir durch das Erdgeschoss gegangen waren, nahm Leo Ian mit in den Keller, um die Frettchen zu besuchen. Ich redete mich heraus, indem ich Marta Hilfe in der Küche anbot. Sie kochte Spaghetti mit Fleischklößen, dazu gab es einen Laib Knoblauchbrot. Ich erwartete, dass sie mir als Nächstes sagte, ich sei zu dünn, und mich dann cara nennen würde.
»Dein Vater hat gesagt, dass der Junge seine Mutter verloren hat«, sagte sie. Sie wusch Blattsalat im Spülbecken und schrie, um das Wasserrauschen zu übertönen.
»Nein, nicht ganz. Sie hat versucht, sich umzubringen. Aber es geht ihr schon wieder besser.«
Marta schüttelte den Kopf. »Oh, früher oder später schaffen sie es immer. So schwer kann das ja nicht sein. Das ist ein verrücktes Land, in dem die Leute sich umbringen wollen. In anderen Ländern kämpfen die Menschen täglich ums Überleben, sie rennen durch Kugelregen, essen fünf kleine Reisküchlein, und hier sagen die Leute, oh, am Leben bleiben in diesem schönen Land mit so viel Essen? Danke, das ist nichts für mich.«
Ich war sicher, dass es viele Selbstmorde in jenem Land gab, in dem das russische Roulette erfunden worden war, aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, es laut auszusprechen.
»Es ist traurig, in Amerika eine Waise zu sein«, sagte Marta, »aber er wird bestimmt adoptiert werden. Weiße Kinder werden immer adoptiert.«
Sprachlos rührte ich die Spaghetti um. Dann schaffte ich es schließlich, ihr zu erklären, dass ich Ian zu seiner Großmutter in Vermont brachte. »Der Plan wurde geändert«, sagte ich, »deshalb wussten meine Eltern nicht Bescheid. Das ist eine gute Entwicklung. Sie ist eine bodenständige Frau, sehr patent.«
Eine Minute später kam Ian und zeigte mir stolz drei rote Punkte, wo Valentina ihn gebissen hatte.
»Wasch das aus, mit Seife«, sagte ich. Ich wollte nicht daran denken, dass er Tollwut bekommen könnte.
Kurz danach saßen wir am Esstisch, und der Knoblauch überdeckte gnädig den Geruch der Frettchen. Als Leo seine Hände über das Essen hob, wurden wir still. Er schloss seine Augen. Mit der getragenen Stimme eines Priesters sagte er: »Wie wir schon in der Alten Welt zu sagen pflegten: Bloß nicht ersticken!«
Ian lachte und langte über den Tisch zum Knoblauchbrot. Bis dahin hatte er vor den Mahlzeiten demonstrativ den Kopf gesenkt, und seine Gebete schienen immer länger geworden zu sein. Ich hatte eigentlich bezweifelt, dass er wirklich betete, so, wie er eine ernste Miene aufsetzte und wie er
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