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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Zeit unterwegs waren und quer durch das Land in Richtung Osten schwebten, waren Phantome und spielten das durch, was hätte sein können oder was hätte sein sollen. Oder wir waren ein Alptraum im hitzigen Hirn der realen Lucy Hull.
    Aber nein, es war anders. Die Lucy in Hannibal war das Phantom. War es schon immer gewesen.
    In dem traurigen, abgestandenen Zimmer
    befand sich ein Aufsatz
    und eine Flasche mit Sand
    und eine afrikanische Maske
    und die Kohleskizze einer männlichen Hand
    und ein verbeulter Flakon
    und drei russische Puppen im Regal an der Wand
    und eine staubige Fensterscheibe
    und Johnny Tremain
    und der Kopf von Anne Boleyn.
    Gute Nacht, Anjas Zimmer,
    gute Nacht, neurotischer Junge von zehn,
    gute Nacht, Sparschwein mit fremdem Geld,
    gute Nacht, Zigaretten,
    gute Nacht, Schuhschachtel,
    gute Nacht, Schublade voller Socken.
    Gute Nacht, Frettchen,
    gute Nacht, Luft
    gute Nacht, Sirenen überall …

25
    Die Nation der Ausreißer
    Seit drei Stunden versuchte ich einzuschlafen, aber das Zimmer war kalt und ich dachte ständig an die Schuhschachtel. Marta hatte in der Diele eine Nachtlampe brennen lassen, und ich stand oben an der Treppe und wartete, bis meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten.
    Ich dachte daran, dass ich noch in der Nacht wegfahren könnte, und wenn Ian wach würde, wäre ich fort. Die Labaznikows würden ihn nach Hause bringen. Aber dann müssten sie der Polizei sagen, unter welchen Umständen sie ihn kennengelernt hatten, und ich müsste mit den 2,35 kanadischen Dollar in Münzen nach Kanada fliehen. Und außerdem, wenn ich ihn in der ersten Nacht nicht nach Hause gefahren hatte, wenn ich ihn nicht allein am Kunstmuseum in Cleveland zurückgelassen hatte, wenn ich ihn nicht an einer Tankstelle stehengelassen und die Polizei angerufen hatte, würde ich ihn auch jetzt nicht verlassen.
    Ich ging vorsichtig die Treppe hinunter, der Frettchengestank wurde mit jeder Stufe schlimmer. Die Schachtel stand noch immer auf dem Couchtisch. Ich war überrascht, dass Leo ihn einfach stehen gelassen hatte, diesen illegalen Schatz, den ich so sorgfältig unter meinem Bett im Hotel verstaut hatte, diesen vierten Gefährten auf der gelben Ziegelsteinstraße durch Ohio. Das Klebeband meines Vaters versiegelte noch immer den Deckel. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht dabei war, als er die Schachtel zugeklebt hatte, und mir wurde flau bei dem Gedanken. Wer weiß, was er in letzter Sekunde noch hineingepackt hatte. Ich hob die Schachtel und schüttelte sie vorsichtig. Sie war schwerer, als es die paar Quittungen sein konnten, die er mir gezeigt hatte, und was da hin und her rutschte, mochte ein gebündelter Stapel Rechnungen sein, oder eine kleinere Schachtel in der großen Schachtel. Ich konnte das Klebeband nicht entfernen, ohne die Schachtel zu beschädigen. In der Küche fand ich einen Bleistift und zwängte ihn durch eine Öffnung in einer unteren Ecke. Das Loch war so klein, dass Leo glauben konnte, er hätte es vorher übersehen. Ich schob meinen Finger hinein und tastete nach dem Inhalt. Da war etwas Festes. Ich erinnerte mich an die Taschenlampe und ging nach oben, um sie zu holen.
    Als ich Anjas Zimmer erreichte, stand Ian in der Tür. Er sagte: »Ich kann nicht atmen.« Seine Schultern waren hochgezogen, und ich hörte, wie er pfeifend keuchte. »Ich habe den Inhalator benutzt, aber es hat kaum geholfen. Soll ich es noch einmal machen?«
    »Nein, das ist keine gute Idee.«
    »Aber ich … kann nicht … atmen!« Jetzt schrie er und atmete viel zu schnell. Wenn ich das alles als Kind nicht hundertmal selbst durchgemacht hätte, hätte ich gedacht, er stirbt. Auf der anderen Seite des Flurs ging das Licht an, Leo kam heraus, in einem blauweiß gestreiften Pyjama, und rieb sich die Augen. Er machte Licht in der Diele, und Ian sank zu Boden, er schlang die Arme um die Schultern und weinte laut. Marta, im Bademantel, folgte Leo.
    Die Labaznikows brachten Ian ins Erdgeschoss, Marta stieß beruhigende Glucksgeräusche aus, und Leo klopfte ihm den Rücken und sagte: »Wir kriegen dich wieder hin, so gut wie neu, alles voll mit Luft!« Ich folgte ihnen, froh, dass ich die Schachtel nicht vom Couchtisch genommen hatte.
    Wir saßen in der Küche, und Marta kochte Wasser für Kaffee. Ich dachte zunächst, er wäre für uns Erwachsene, um uns wach zu halten, bis sie Ian einen großen Becher Kaffee gab, verdünnt mit Milch und Zucker. Mein Vater hatte mir auch immer Kaffee gegen die

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