Ausgeliehen
zu sein schien, zu streicheln. »Es ist eine süße Geschichte, aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass sie stimmt. Mach dir keine Sorgen.«
Sein Schweigen war beunruhigend. Ich drehte mich um und sah den seltsamen Kontrast zwischen der Stemmbank und dem alten, müden Mann im Pyjama, zu zerbrechlich und arthritisch, um sie je wieder benutzen zu können. »Lucy, diese Geschichte hat mich immer irritiert. Es hat mich sogar irritiert, dass er sie Anja erzählt hat. Aber nach so vielen Jahren erzählt er sie immer noch.«
Ich zuckte mit den Schultern, lachte und fühlte mich extrem unwohl dabei. »Nun, ich weiß, dass sie nicht stimmt. Das ist okay, wirklich.«
»Es gab eine Leningrader Schokoladenfabrik, als Jurek und ich kleine Kinder waren – sechs, sieben, acht Jahre alt. Aber es war nicht die deines Vaters. Sie gehörte deinem Großvater. Er hatte sie im Keller, so wie ich es erzählt habe.«
»Ich dachte, mein Großvater arbeitete für die Regierung.«
»Ja. Ja. Du erkennst das Problem. Er arbeitete für das Kultusministerium, aber am Wochenende ging er in sein Haus, das etwas außerhalb Moskaus lag, und ließ die halbe Stadt in seinem Keller arbeiten. Der einzige Schritt, den er unternommen hat, um sein Verbrechen zu verstecken, war, dass er auf die Etiketten das Wort ›Leningrad‹ druckte. Aber das funktionierte. Die blöde Regierung suchte überall in Leningrad. Und Roman Hulkinow erschien jeden Morgen zur Arbeit, sein Atem roch nach Schokolade, und niemand schöpfte Verdacht.«
Das Koffein, der Schlafmangel und der Geruch der Frettchen lösten eine Welle der Übelkeit in mir aus, aber was Leo erzählte, war so interessant, dass ich auf dem nassen grünen Teppich sitzen blieb und mich nicht entschuldigte, um nach oben zu gehen. Ich atmete durch den Mund. Ich versuchte, die einzelnen Stücke zusammenzusetzen, und sagte: »Aber am Schluss wurde er doch noch geschnappt.«
»Nun, ja. Ja. Ich möchte dir etwas über mich erzählen: Ich glaube nicht daran, dass es gut ist, die Geheimnisse aus der Vergangenheit zu verschweigen. Ich denke, wenn wir falsche Vorstellungen von der Welt haben, treffen wir auch falsche Entscheidungen. Als Anja klein war, habe ich ihr nie von der hässlichen Seite der Flucht erzählt, davon, dass ich meine Familie in Stich gelassen habe und zuließ, dass meine Schwester einen Säufer heiratete. Ich bastelte daraus eine glückliche Geschichte. Und was hat Anja gemacht? Sie ist ausgerissen. Sie dachte, das macht Spaß. Weil sie die falsche Information bekommen hatte.«
Mir war nicht klar, was er mir damit sagen wollte, ob es sich bei dem, was er mir erzählte, um eine Anschuldigung oder eine Warnung oder eine Rechtfertigung handelte. Ich konnte mich auch nicht länger darauf konzentrieren, weil die Übelkeit in meinem Hals, in meinem Gesicht und in meiner Brust pulsierte. Ich versuchte, meine Nase in Anjas Sweatshirt zu vergraben, aber der Modergeruch erfüllte meinen Kopf wie Staub.
»Also, ich erzähle dir das, weil ich denke, dass es nützlich ist. Verstehst du?«
Irgendwie schaffte ich es, mit dem Kopf zu nicken.
»Dein Vater und ich hatten eine Lehrerin, Sofia Aleksejewa. Wir waren acht Jahre alt und beide in sie verliebt. Sie hatte einen langen Zopf, deshalb liebten wir sie. Sie brachte uns Lieder über Pawlik Morosow bei. Das war ein dreizehnjähriger Junge, der seinen Vater an die Sowjets verraten hatte und von seinem eigenen Großvater getötet wurde. In der Sowjetunion ein Märtyrer erster Klasse. Es gab Pawlik-Morosow-Büsten, es gab Theaterstücke und Bücher über ihn. Ich bin sicher, dass Sofia Aleksejewa uns die Lieder beibrachte, weil man es ihr befohlen hatte. Aber dein Vater dachte, dass sie Pawlik Morosow wirklich bewunderte.«
Obwohl ich den dunklen, schrecklichen Verlauf der Geschichte ahnte, löste sie die gegenteilige Reaktion bei mir aus, als sie es normalerweise tun würde. Mein Kopf wurde klar, die Übelkeit verschwand, und meine Nase war wieder frei.
»Ich verstehe«, sagte ich und meinte damit: Hör auf. Eher seinetwegen als meinetwegen. Er stützte die Hände auf die Knie und sah elend aus, blass und alt.
»Er hinterließ ihr nach dem Unterricht einen Brief. Ich sah, wie er ihn auf ihren Schreibtisch legte, ich hinderte ihn nicht daran, weil ich dachte, es wäre ein Liebesbrief. War es letztlich auch, würde ich sagen. Ich neckte ihn auf dem ganzen Heimweg, bis er mir erzählte, was drinstand. Er hatte ihr alle Details der Fabrik angegeben.
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