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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Asthmaanfälle geben wollen, aber meine Mutter hatte das abgelehnt: »Willst du, dass sie nur einen Meter zwanzig groß wird?«
    Ian begann, auf den Kaffee zu blasen, und trank kleine Schlucke. »Ich habe … von meiner Mutter … Starbucks … die ganze Zeit«, brachte er zwischen seinen keuchenden Atemzügen heraus. Wahrscheinlich hatte sie ihm ihren Kaffee gegeben, nachdem sie ihre zehn Kalorien davon getrunken hatte. Aber es war nicht fair von mir, jetzt Schlechtes über sie zu denken. Ich trat mir unter dem Tisch selbst auf den Fuß.
    Die Küche der Labaznikows war hellgelb gestrichen. Über der Spüle standen kleine Kräutertöpfe. Die Uhr an der Wand zeigte drei Uhr. Ian trank den Kaffee aus, und seine Schultern senkten sich etwas. »Das ist der Stress«, flüsterte Marta, »wegen seiner armen Mutter.« Sie meinte die fingierte Mutter, die suizidale Frau, nicht die richtige, magersüchtige, evangelikale Mutter. Ich nickte. Sie gab Ian noch einen Becher Kaffee, dann auch uns, und setzte noch einmal Wasser auf.
    Leo sagte: »Das ist kein echter russischer Kaffee. Echter russischer Kaffee macht deine Venen schwarz. Lucy, der Kaffee, den dein Vater gekocht hat, war wie geschmolzene Felsen.«
    Ian nahm einen tiefen, feuchten Atemzug, damit er wieder sprechen konnte, und sagte: »Haben Sie … Mr Hull … schon in Russland gekannt?«
    »Ah! Jurek Hulkinow war mit mir in einer Klasse! Er war gut in Mathematik, und ich will dir sagen, warum. Wenn die Lehrerin uns fragte, wie viel sieben mal acht ist, hat Jurek gesagt, zweiundvierzig. Sie sagte dann, nein, das stimmt nicht. Aber Jurek hat ihr genau erklärt, warum sieben mal acht zweiundvierzig ist, so lange, bis die Lehrerin damit einverstanden war, dass er recht hatte. Er konnte sie dazu bringen, sich für ihre Fehler zu entschuldigen.«
    »Gehörten Sie auch zur Schokoladenfabrik?«
    Marta legte ein nasses Papiertuch auf Ians Stirn. »Halt das hier fest und hör auf zu reden«, sagte sie.
    Leo sah inzwischen verwirrt aus. »Nein, zur Schokoladenfabrik? Nein.«
    »Aber war sie echt?«
    Marta und Leo schauten sich über Ians Kopf hinweg an und sahen aus wie zwei Kinohelden, die verwirrt und beeindruckt und wortlos überlegen, wie man mit der schwierigen Situation fertig wird.
    Aber Leo überraschte mich: »Ja. Die Leningrader Schokoladenfabrik. Sie war echt. Ich erzähle dir ein Geheimnis: Das war die beste Schokolade, die ich je in meinem Leben gegessen habe. Der Keller der Hulkinows war voller Menschen, die Tag und Nacht schufteten, umsonst , nur damit sie die Schokolade bekommen konnten. Sie waren wie die Umpa-Lumpas. Es war ein Sieg des Kapitalismus.« Er sah, dass Ian sich wieder anstrengen wollte, wahrscheinlich um zu fragen, was Kapitalismus war. »Marta hat recht, Sprechen ist jetzt nicht gut für dich. Ich sag dir was: Ich nehme Lucy mit nach unten, um ihr die Frettchen zu zeigen, und du bleibst hier ruhig mit Marta sitzen.«
    Ich wollte ihn nicht mit jemand anderem allein lassen, aber ich war zu müde, um zu argumentieren, und zu irritiert von der Tatsache, dass ich mit Ian eventuell morgen zur Notaufnahme müsste, ohne eine Krankenversicherung zu haben. Außerdem war ich schon auf der Kellertreppe, auf der ein leuchtend grüner Teppich lag, der sich unter meinen nackten Füßen immer weicher und feuchter anfühlte. Und da, in langen Drahtkäfigen, saßen die Frettchen, die bestimmt der Grund für Ians Asthmaanfall waren. Die Wände waren holzgetäfelt, es gab eine Bar und eine uralte Stemmbank und Wäsche, aber das Zimmer wurde von diesen drei großen Käfigen beherrscht, die in der Mitte standen, und von den Tieren, die sich elegant streckten, als Leo immer mehr Lampen anmachte. Das erste Tier, das ich anfassen wollte, hatte die Farbe eines Pfirsichs und eine weiße Nase, die anderen beiden waren nussbraun. Leo setzte sich auf die Stemmbank, während ich Clara, Valentina und Levi höflich Aufmerksamkeit schenkte (ihre Käfige hatten Namensschilder aus Messing). Je mehr ich sie beobachtete, umso mehr erkannte ich, dass sie tatsächlich faszinierend waren – wie sie so den Rücken schlängeln ließen, als machten sie Nager-Yogaübungen.
    Hinter meinem Rücken sagte Leo: »Lucy, ich habe diese Geschichte schon früher gehört. Von der Schokoladenfabrik. Dein Vater hat sie auch Anja erzählt.«
    Ich lachte. »Oh, er hat nur versucht, Ian aufzuheitern.« Ich steckte meine Finger durch die Drähte, um Clara, das pfirsichfarbene Frettchen, das das ruhigste

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