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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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weggelaufen. Jahrelang hatte ich nicht mehr daran gedacht. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen und hatte unter meinem Schreibtisch gekauert. Den ganzen Vormittag hatte ich ein Stockwerk tiefer verbracht und mit Tamara Finch gespielt, und als ich zurückkam, war die Diele so still, als wäre das ganze Gebäude in Trance verfallen, und ich wollte ein Teil davon werden. Ich ging so leise durch die Wohnung, wie ich nur konnte, und kroch unter meinen Schreibtisch, von wo aus ich die großen Schneeflocken sehen konnte, die vom Himmel fielen. Ich hielt ein Buch in der Hand, las aber nicht. Ich stellte mir meinen Großvater vor, wie er in der sibirischen Schneewüste verschwand. Ich war meinen Eltern nicht böse, ich war nicht einmal traurig – ich wollte nur den Zauber nicht brechen. Auch als sie einander fragten, ob ich nach Hause gekommen sei, und auch als sie bei Mr Finch anriefen, saß ich wie verzaubert da und wollte nicht existieren. Erst als meine Mutter Anstalten machte, die Polizei anzurufen, kam ich aus meinem Zimmer, gähnte und erzählte ihnen, ich hätte unter meinem Schreibtisch geschlafen. Sie konnten mir deshalb nicht böse sein, und sie waren es auch nicht.
    Wenn sie mich damals erwischt hätten, wenn sie mich auf den Tisch gesetzt und angeschrien oder mich geschlagen hätten, würde ich heute nicht in diesem Schlamassel stecken. Ich hätte meine Lektion auf die leichte Tour gelernt: Du kannst nicht einfach verschwinden. Nicht in Amerika, nicht in dieser Zeit. Damals hielt ich es für möglich, in Russland in einer verschneiten Steppe zu verschwinden. (Vielleicht war ich deshalb bereit, mit Ian in den Norden zu fahren, alle dreißig Kilometer war die Temperatur um ein Grad gesunken, jeder neue Tag brachte immer mehr alte Schneehaufen am Straßenrand.) Aber nein, auch das war eine Lüge. Sibirien gab es nicht mehr. Man konnte nicht mehr vom Erdboden verschwinden.
    Als die Abenddämmerung einsetzte, machten wir halt in Bennington, weil Ian sich daran erinnerte, dass er mal einen Aufsatz über die Schlacht von Bennington geschrieben hatte. Die Geschäfte hatten schon geschlossen, und man konnte niemanden etwas fragen. In einem Flyer, den wir an einer Tankstelle liegen sahen, fanden wir Informationen zu einem Museum über den Unabhängigkeitskrieg, aber als ich sagte, wir könnten bis zum nächsten Tag warten, reagierte er nicht gerade begeistert. »Ich mag keine Museen, ich habe immer Angst, das Alarmsystem zu aktivieren.« Ich fragte mich, ob die Green Mountain Boys ihm wirklich am Herzen lagen oder ob es einfach das Einzige war, was er von Vermont wusste. Wir nahmen den Flyer mit, kauften uns einige Snacks, und Ian erwarb mit dem Rest seines Geldes eine Sonnenbrille mit grünem Rahmen und grünen Gläsern und der Aufschrift »I L♥VERMONT«.
    Dann fuhren wir noch ein Stück weiter und parkten vor einem Hotel an der langgestreckten Hauptstraße einer Stadt, deren Namen wir noch nicht einmal wussten. Die Fußböden des Hotels waren schief, und das Haus war so hellhörig, dass Ian überzeugt war, es würde spuken. Wir waren die einzigen Gäste, aber als wir zu Abend aßen, füllte sich das Lokal mit Einheimischen. Sie starrten uns an, aber das war bestimmt nur, weil wir fremd waren oder weil Ian darauf bestand, während der ganzen Mahlzeit die Sonnenbrille über seiner normalen Brille zu tragen, damit seine Milch grün aussah.
    Ich hatte Hunger, das erste Mal seit dem Besuch bei den Labaznikows. Ich hatte Hunger, ich war müde und mir war kalt, trotz des ganzen Junkfoods, das ich gegessen hatte, seit wir unterwegs waren, und obwohl ich die Heizung im Hotelzimmer jede Nacht auf Hochtouren laufen ließ, trotz Adrenalin und Koffein, die allmählich mein Blut ersetzten. Ich wollte warmes Brot essen, mich in Decken hüllen und schlafen gehen. Ich wollte einen ganzen Heidelbeerkuchen essen. Wahrscheinlich hatte ich Heimweh, aber es war nicht klar, nach welchem Zuhause. Nach einem Zuhause, das es nicht gab.
    Am Montag aßen die verwirrte Bibliothekarin und der sehr seltsame Junge ein Milky Way, ein paar Kekse, eine fettige Pepperonipizza, zwei Cheeseburger und tranken eine Cola. Aber sie fuhren weiter.

    Am Dienstag aßen sie sechs gezuckerte Donuts, zwei blasse Fastfood-Salate, ein paar Spinatravioli mit Tomatensoße und tranken eine stibitzte Flasche teuren Syrah. Aber sie fuhren weiter.
    Am Mittwoch aßen sie zwei Teller Rührei, ein Sandwich mit Schinken, Salat und Tomate mit verzierten Zahnstochern, eine

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