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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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vorbei, Ian las mir laut aus dem Magazin vor, das er sich von den fünf Dollar gekauft hatte – ein trashiges Heft über Teeniestars, mit dem Foto eines Schauspielers ohne Hemd auf dem Deckblatt, dessen Namen ich nie zuvor gehört hatte, obwohl ich seinen ungepflegten Ziegenbart und die beängstigend blassen Augen erkannte. (»Was ist ein Verlobter?«, fragte Ian, »und was ist eine Entziehungskur?«) Allmählich sah jedes Auto wie ein Polizeiwagen aus, und jedes Geräusch klang wie eine Sirene. Ich fragte mich, ob Rocky seinen Verdacht der Polizei in Hannibal mitgeteilt hatte oder ob er auf eigene Faust arbeitete und versuchte, sich auf die Hinweise einen Reim zu machen. Er war derjenige, der das Licht gesehen haben musste, das ich angelassen hatte. Und er war derjenige, der wusste, wie nah mir Ian stand.
    Ian bekam dreißig Punkte, weil er »Hull« mit »Knall« reimte, und noch einmal dreißig Punkte, weil er behauptete, »Biographien« reime sich auf »Ian«. Dann schlief er ein, sein Kopf kippte nach hinten, und seine Brille rutschte ihm vom Gesicht. Alle paar Minuten beugte ich mich zu ihm hinüber, um zu hören, ob er keuchte, aber alles, was ich hörte, war das Gurgeln von jemandem, der mit offenem Mund schläft.
    Kurz darauf entdeckte ich hinter mir ein Auto, das genauso aussah wie meins: taubenblau, verrostet, ein Japaner. Ich wollte Ian wecken, aber ich genoss die Ruhe, und er brauchte seinen Schlaf. Ich konnte nicht feststellen, ob hinter dem Lenkrad ein Mann oder eine Frau saß – die niedrig stehende Sonne brach sich in der Windschutzscheibe und machte das Gesicht unkenntlich –, aber ich konnte mir als Lenkerin nur eine Frau vorstellen, die genauso aussah wie ich. Meine Zwillingsschwester – nur dass ihre größte Schuld sich nicht auf dem Beifahrersitz neben ihr befand und dass ihr Kopf nicht voller Gedanken war, die sich in einer Endlosschleife zwischen trauernden Eltern und nachtragenden Exfreunden bewegten. Eine Zwillingsschwester, die nicht die Hauptrolle im nächsten Akt ihrer Familiensaga spielte, einem Akt, der von Schande, Flucht und idiotischem Idealismus handelte.
    Als die Sonne unterging, schaute ich wieder in den Rückspiegel, konnte aber nicht feststellen, ob die kleinen Scheinwerfer hinter uns zu ihrem Auto gehörten oder nicht. Ich weckte Ian erst, als wir an einem Motel Rast machten.

28
    Der Smaragd-Staat
    Ians Asthma war am nächsten Morgen besser. Bevor wir in das Auto einstiegen, presste ich mein Ohr an seinen Rücken und hörte ihn ab. Er bog sich vor Lachen, aber sein Atem war, soweit ich hören konnte, klar.
    Wir gingen zum falschen Auto. Die Kopie meines Autos, der taubenblaue Japaner, stand auf einem näheren Parkplatz als meines. Ein Mann mit dunklen Haaren und Sonnenbrille lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. Als wir die Autobahn erreichten, bog auch er gerade ein. Ich hielt mir innerlich einen Vortrag bezüglich Paranoia, und wir fuhren ein paar Stunden lang in östlicher Richtung, bis wir schließlich an einem Schild vorbeikamen, auf dem stand: »Willkommen im Green Mountain State!« »Nun«, sagte ich, »in welcher Stadt wohnt deine Großmutter?« Das war gemein von mir, und ich weiß nicht, warum ich es gesagt hatte, außer weil ich schlecht gelaunt war, weil ich die ganze Nacht wach gelegen und über meinen Vater nachgedacht hatte, abwechselnd wütend wegen seines Verrats und am Boden zerstört wegen der Schuld, unter der er sein Leben lang gelitten haben musste, und dann wieder verwirrt von der Frage, warum Leo Labaznikow es auf sich genommen hatte, meine Wissenslücke zu schließen.
    Es war lange her, dass wir Ians Großmutter erwähnt hatten, abgesehen von der Großmutter in der Janna-Glass-Geschichte, und er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was ich meinte.
    »Oh, das habe ich nicht gleich verstanden, weil ich sie Nana nenne. Meine Großmutter wäre die Mutter meiner Mutter, und Nana ist die Mutter meines Vaters.«
    »Okay. In welcher Stadt lebt deine Nana?«
    Plötzlich schrie er mich an, mit knallrotem Gesicht: »Wenn ich es dir sage, fährst du mich hin – ohne mir die Sehenswürdigkeiten zu zeigen!« Es war ein vorgetäuschter Tobsuchtsanfall, so einer, wie er ihn mir schon einmal in der Bibliothek geliefert hatte. Nicht halb so beängstigend und nicht halb so echt wie sein Anfall an dem Tag, als wir losgefahren waren. Er drückte das Gesicht in seinen Schoß, dann schaute er hoch und jammerte: »Ich wollte die Green Mountain Boys

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