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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Labaznikow mir erzählt hatte, ich wollte sehen, ob er derselbe Mann war, den ich vor zwei Tagen mit einer Eispackung im Bett liegend verlassen hatte, oder ob die belastende Information, die ich in der Zwischenzeit bekommen hatte, ihn anders klingen lassen würde. Ich fragte mich, ob ich so etwas wie Schuldgefühl wegen des Vatermordes hinter seinem Akzent entdecken würde.
    Er war aber äußerst fröhlich, total wach und wie immer.
    »Lucy! Was ist los?«
    Ich saß auf dem harten, muffigen Bett und flüsterte, weil ich zu viel Angst hatte, hinaus auf den Flur zu gehen. Ich erzählte ihm, dass ich Ian nach Vermont zu seiner Großmutter fahren würde. Woodstock, Vermont, sagte ich, weil ich sicher war, dass es so eine Stadt gab, und ich sagte, die Großmutter sei in den Fünfzigern, eine Mosaik-Künstlerin, die bestimmt in der Lage sei, auf Ian aufzupassen. »Aber er hatte noch Gelegenheit, die Labaznikows kennenzulernen«, sagte ich. »Das hat Spaß gemacht! Er hatte einen kleinen Asthmaanfall, aber er hat ihn gut überstanden.«
    »Ja, ja, ein Vögelchen hat es mir geflüstert.«
    »Leo hat dich also informiert. Oh, warte, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Deshalb rufe ich an!« Ich begriff, dass ich mich ziemlich betrunken anhörte, und versuchte langsamer und deutlicher zu sprechen, als hätte dieser Trick in der langen traurigen Geschichte des Saufens jemals jemanden getäuscht.
    »Ja! Ein Geschenk ist nicht nötig.«
    Ich stürzte kopfüber hinein. Ich war in dieser besonderen Alkohollaune, in der man sieht, wie die Entscheidungen, die man gerade getroffen hat, an einem vorbeifliegen wie die Telefonmasten auf der Autobahn. »Onkel Leo hat mir die wahre Geschichte der Schokoladenfabrik erzählt. Endlich.«
    »Okay. Ja.« Er hörte sich nicht überrascht an. Eher irgendwie nonchalant.
    »Die wahre Geschichte. Kennt Mama sie?«
    »Hör zu, ich muss dir etwas sagen. Du denkst, dass du die Hilfe deines Vaters nicht brauchst, und wie du siehst, brauchst du sie doch. Du brauchst das Geld, und du hättest das Auto nehmen sollen.«
    »Paps, ich bin in Vermont. Ich kann dein Auto nicht nehmen.«
    »Du solltest darüber nicht so überrascht sein. Das ist die Dummheit von Kindern. Das ist die Moral der Geschichte, ja? Kinder denken, sie wissen alles, und was wissen sie? Nie so viel wie ihre Eltern.«
    Ich konnte seine Worte nicht so umstellen, dass sie einen Sinn ergaben. Er klang verärgert, aber ich konnte nicht feststellen, ob er wütend war auf mich, weil ich nicht schon früher die wahre Geschichte begriffen hatte, oder nur wütend auf sich selbst, oder (war das möglich?) wütend auf Ian, weil er seine Eltern verraten hatte, weil er dachte, er wisse alles besser als sie.
    »Scheiße«, sagte er, und ich konnte hören, dass ein Glas zu Bruch ging. Dann begriff ich, dass er betrunken war, dass es fast Mitternacht war, an seinem vierundsechzigsten Geburtstag, und dass ich der nüchternere Part dieses Gesprächs war.
    »Paps, wir können ein andermal darüber reden.« Ian drehte sich im Bett um und keuchte ein bisschen.
    »Nein, ich werde dir jetzt etwas über die Dummheit von Erwachsenen erzählen. Gut, wir wissen schon von der Dummheit von Achtjährigen, ja? Dieser Junge, von dem dir Onkel Leo erzählte, wuchs heran und wurde zwanzig und kapierte, was er angerichtet hatte. Du begreifst schon ein bisschen, wenn du neun bist, du begreifst ein bisschen mehr, wenn du zehn bist, und wieder etwas, wenn du elf bist, dann zwölf, aber jedes Jahr wird dir klar, dass das, was du ein Jahr zuvor begriffen hast, zehnmal schlimmer ist. Und dein Herz wird bleischwer.« Jetzt brüllte er fast, und ich fand es schrecklich traurig, dass er darüber nicht in der ersten Person sprach, und ich wollte nur, dass er aufhörte. Aber ihn dazu zu zwingen wäre noch brutaler gewesen als die Tatsache, dass ich alles ins Rollen gebracht hatte.
    »Und wenn man zwanzig ist, hat man die Wahl: Man kann sich umbringen oder man rächt sich an der Welt. Also habe ich ein kleines, acht Seiten starkes Buch über die Gehirnwäsche bei russischen Kindern geschrieben, und mitten in der Nacht habe ich dieses Buch in alle Moskauer Türschlitze gesteckt. Nein, nicht in alle, aber sagen wir mal, in fünfhundert. Dann nahm ich Kartoffeln und stopfte sie in die Auspuffrohre von den Autos der Parteifunktionäre, die vor den Regierungsgebäuden parkten. Nicht um sie zu töten, in der UdSSR ist keiner so blöd, dass er nicht vor dem Starten sein Auto kontrolliert.

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