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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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irritiert aus, doch abgesehen davon konnte ich nicht erkennen, was er dachte. »Wir reden eigentlich nicht über solche Sachen, so … schwule Sachen.« Er flüsterte. »Wir reden meistens über Familien und wie man eines Tages ein Vater wird und was man beim Tanzen macht, aber bei mir in der Schule gibt es sowieso in den nächsten zwei Jahrgangsstufen keinen Tanzunterricht. Es nervt mich, und langweilig ist es auch, und danach will meine Mutter alles haarklein erzählt bekommen, was wir da gemacht haben, und sie brüllt, wenn ich mich nicht mehr genau erinnere. Dann weint sie immer auf dem Weg nach Hause.«
    »Oh«, sagte ich nur. Klar, wenn Pastor Bob diese Kinder noch vor den »weltlichen Medien« zu erreichen hoffte, würde er das Schwulsein nicht selbst thematisieren, nicht explizit. Und wenn ich jetzt weiter Druck machte, wäre ich diejenige, die es für Ian ungemütlich werden ließ. Ich würde ihn verlieren. Außerdem wollte ich ihm auch nicht die Botschaft überbringen: He, deine Eltern denken, dass du schwul bist. Sie haben wahrscheinlich recht. Die nächsten acht bis zehn Jahre werden die Hölle für dich sein.
    Deshalb sagte ich: »Das Problem ist, dass er den Menschen sagt, sie könnten an der Art, wie sie geboren sind, etwas ändern. Und das ist einfach nicht wahr .« Bei den letzten Worten begriff ich plötzlich, dass ich annahm, Ian könne genau dort, in der Hölle, landen. Dass er so lange im Glad-Heart-Rehabilitationsprogramm bleiben würde, bis er heterosexuell würde, bis er weglaufen oder sich erschießen oder eine Überdosis Drogen nehmen oder eine unglückliche, einsame Frau heiraten würde. Diese Gedanken machten mich fertig, aber zumindest hatte ich den Mund aufgemacht. Und wir hatten noch ein bisschen Zeit, und wenn es auch nur die letzten fünf Minuten vor meiner Verhaftung wären. Wäre ich nicht so ausgetrocknet gewesen, hätte ich vielleicht geweint. Ich wiederholte: »Das ist einfach nicht wahr.«
    Ians Gesicht war dunkelrot und er schaute sich immer wieder im Raum um. Ich hatte zu laut gesprochen und vermutlich war er so peinlich berührt, dass er gar nicht richtig zugehört hatte. Er zerknüllte seine Serviette und legte sie in den leeren Suppenteller, dann stach er mit der Gabel hinein. Ich wollte mich entschuldigen, stattdessen zahlte ich. Als wir aufstanden, fragte er: »Ist die Garnele ein Schalentier?«
    »Ja.«
    »Ich habe gesehen, wie er bei der Weihnachtsfeier eine Garnele gegessen hat. Pastor Bob.«
    »Siehst du.«
    Als wir wieder draußen auf der kalten Straße standen, war Ian lebhaft und atmete langsamer und tiefer. Er gab mir seine grüne Sonnenbrille und sagte: »Okay, bleib ganz weit zurück, als würdest du mich nicht kennen. Und komm nur zu mir, wenn ich in Schwierigkeiten bin.« Er stopfte die vielen Pfefferminzbonbons und die Zahnstocher, die er auf dem Weg nach draußen geklaut hatte, in seine Hosentasche.
    Ich lehnte mich an die Wand des Restaurants. Der Kaffee hielt mich wach, machte mich aber noch durstiger, so dass ich mich erschöpft und leer fühlte. Ian ging auf einen Studenten zu, denselben, den wir vorher gesehen hatten, den mit dem Zweig in seinen Rastalocken. Sie sprachen einige Sekunden miteinander, Ians Stimme klang ernst, dringlich und furchtbar verzweifelt, obwohl ich nicht verstehen konnte, was er sagte – und dann setzte der Student seinen Rucksack ab und kniete sich hin, um den Reißverschluss auf der Seite zu öffnen. Anschließend gab er Ian etwas, schlug ihm liebevoll auf die Schulter und ging. Ian steckte das Erhaltene, das wie ein Geldschein aussah, in seine Tasche, und ging zu zwei Mädchen mit Einkaufstüten. Woher er wusste, welche Menschen er ansprechen konnte – weshalb er es zum Beispiel vermied, Mütter anzusprechen, die versuchen würden, ihn nach Hause zu schicken –, wusste ich nicht, aber ich vermutete, dass es weniger mit Gerissenheit zu tun hatte, sondern eher mit einer instinktiven, kindlichen Manipulationstaktik. Er sprach einen Mann an, der wie ein junger Professor aussah, ein Mädchen auf einem Skateboard und zwei Kellner während ihrer Pause. Nach zwanzig Minuten schloss ich sogar die Augen, so sicher war ich, es seiner Stimme anzuhören, falls etwas schieflaufen sollte.
    Als ich die Augen wieder aufmachte, war er immer noch da, er sprach mit einer bekifft aussehenden Frau mit Gitarre. Doch auf der anderen Straßenseite stand dieser Mann, an das Schaufenster eines Kinderbekleidungsgeschäfts gelehnt. Ich konnte seinen

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