Ausgeliehen
und Flyer von Restaurants, die er unterwegs mitgenommen hatte, aus seinem Rucksack holte und sie auf der Anrichte im Halbkreis auslegte, zusammen mit den Büchern von Lowry, den Büchern über Vermont und einer Ausgabe von Das ägyptische Spiel aus der Bibliothek in Hannibal. »Es tut mir leid, dass ich das Buch nicht ordentlich ausgeliehen habe«, sagte er. »Aber ich hätte es sowieso nicht nehmen dürfen. Ich habe versucht, es zu lesen, als ich in der Bibliothek war, aber ich hatte zu viel Angst. In der Bibliothek spukt es nämlich nachts.«
»Und wer spukt?«
»Wahrscheinlich die Geister der toten Bibliothekarinnen. Nicht wie du, sondern alte Jungfern, die nie geheiratet haben.«
Als ich in jener Nacht im Bett lag, dachte ich, was für ein wundervolles Kinderbuch das sein könnte: Eine Bibliothekarin wird von den Geistern alter, freundlicher Bibliothekarinnen heimgesucht. Sie würden um die Bücherstapel herumschweben, würden in verstaubten Büchern Hinweise hinterlassen und drei tapferen Kindern helfen, den Schatz unter dem Fußboden zu finden. Wo gab es ein besseres Versteck für Geheimnisse als in einer Bibliothek? Tausende von zugeschlagenen Büchern, auf Hunderten von Regalen.
Vielleicht war es das, was ich tun würde, nachdem man mich erschossen haben oder ich vor Kummer gestorben sein würde. Ich würde herumschweben, mich anschleichen, spuken und Hinweise wie Schneeflocken fallen lassen. Wenn dann Kinder kamen, um sich zu verstecken, würde ich sie verzaubern und in Bilderbücher kriechen lassen. Und wenn Polizisten oder Reporter oder Pastoren nach ihnen suchten, würde ich aus meinem kleinen Puppentheater springen, geisterhaft mit den Fingern schnippen und sie alle verscheuchen.
30
Wo ist Ian?
Alle suchen nach Ian. Kannst du dabei behilflich sein?
Ist er unter dem Bett? Lüfte die Tagesdecke!
Nein! Das ist eine Katze!
Ist er im Bobmobil?
Nein, das ist ein evangelikaler Schaumschläger!
Trinkt er Kaffee mit dem Ukrainer Schapko auf einer Couch im Apartment eines Hochhauses?
Nein! Das ist der vatermörderische russische Patriarch!
Ist er in der Herrentoilette der Bibliothek und flüstert übers Handy mit dem FBI?
Nein! Das ist Rocky, der freundliche Bibliothekar!
Fährt er in einem verrosteten blauen Auto mit einem Nummernschild von Pennsylvania um das Hotel?
Nein! Das ist ein seltsamer Mann mit gegelten Haaren und einer ominösen Sonnenbrille!
Fährt er im Zickzack durch den Norden von Vermont, mit einer Möchtegernrevolutionärin, die ab und zu in Julie-Andrews-Imitationen ausbricht?
Hurra! Du hast Ian gefunden!
31
Nordwärts
Mein Handy hatte hier in den Bergen keinen Empfang, sonst hätte ich Rocky am nächsten Morgen angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich die Mail bekommen hatte, und um zu fragen, ob es etwas Neues über Ian gäbe. Stattdessen fuhren wir auf der Route 89 weiter nach Norden. Ian gab die Anweisungen.
»Ich hoffe, dass deine Großmutter nicht in Kanada lebt«, sagte ich. »Das ist die Richtung, in die wir fahren.« Wir unterhielten uns leise in einem kleinen Laden auf dem Land, wo wir angehalten hatten, um etwas fürs Frühstück zu kaufen.
»Warum können wir nicht nach Kanada fahren?«
»Wir haben keine Reisepässe. Darum.« Ich sagte das, obwohl mein Pass in meiner Brieftasche steckte. »Mit deinem Schwimmausweis kannst du nicht nach Kanada einreisen.«
»Ich wollte nur sagen, dass ich Kanada gern sehen würde. Mit meinen eigenen Augen. Können wir das wirklich nicht machen?«
»Ich denke, an der Grenze gibt es viel Verkehr. Ich habe keine Ahnung, wie nahe wir heranfahren können.« Das Letzte, was ich mir wünschte, war, mitten in eine Polizeikontrolle zu geraten.
Statt Kellogg’s Cornflakes kaufte Ian eine kleine, billigere Packung Cornflakes, damit er sich feuchte Wischtücher leisten konnte, um seine Sneakers zu putzen. Er kniete mitten im Laden vor der Wand mit Postpaketen und schrubbte das weiße Leder, bis die Schuhe, abgesehen von den Schnürsenkeln, wie neu aussahen. »So sind sie wirklich viel hübscher«, sagte er, stand auf und faltete das Wischtuch zusammen. Der bärtige Mann hinter dem Tresen, der gleichzeitig Postmeister, Müsli- und Benzinverkäufer und vermutlich sogar Bürgermeister war, schaute mich an und zog eine Augenbraue hoch. Sein Blick bedeutete: »Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht. «
Wir fuhren weiter Richtung Norden und hörten uns eine Mixkassette von Anja Labaznikow aus den neunziger Jahren an: Nirvana und Pearl Jam und
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