Ausgeliehen
Post-Dispatch , auf den sich Loloblog bezogen hatte: »Die Polizei in Hannibal bittet um Hilfe bei der Suche nach einem zehnjährigen Jungen, der seit Sonntagnachmittag vermisst wird«, und so weiter. In diesem Artikel war Ians Adresse angegeben, was mir vor sechs Tagen etwas gebracht hätte, und dass er ein rotes T-Shirt trug. Zu meiner Erleichterung sah ich, dass das nicht mehr stimmte.
Der dritte Link bezog sich ebenfalls auf den Post-Dispatch , doch er war neu, vom Samstagmorgen: »Unter der Beschuldigung des Kindesmissbrauchs verteidigt ein Pastor den geistlichen Auftrag zur Schwulen-Rehabilitation.« Ich hatte Schwierigkeiten, mich auf den Text des Artikels zu konzentrieren, nicht weil er etwas besonders Schreckliches aussagte, sondern weil ich in einem Zustand von Müdigkeit und Stress war, in dem Worte keinen kohärenten Zusammenhang mehr ergaben. Ich las jeden Satz fünfmal, und das meiste verstand ich nicht. Doch ich begriff, dass der Artikel von Loloblog eine Schwulen-, Lesben-, Bisexuellen- und Transgendergruppe in St. Louis dazu gebracht hatte, vor dem »dreistöckigen ehemaligen Bürogebäude« zu demonstrieren, das jetzt der Hauptsitz der Glad Heart Ministries war. Eine zweite Aktion war eine Telefonkampagne, in der Freiwillige die Hotline des Amts für Kinder und Familien alle zehn Minuten anriefen und Pastor Bob des verbalen und sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen bezichtigten. (Der Präsident der erstgenannten Gruppe gab an: »Natürlich meinen wir nicht sexuellen Missbrauch im körperlichen Sinne, zumindest wissen wir nichts davon. Aber wir glauben, dass das Zufügen von schweren sexuellen Identitätsstörungen bei Minderjährigen den gleichen langwierigen Schaden verursachen kann wie körperlicher Missbrauch, und wir glauben, dass dieser Fall, wenn er vor Gericht kommt, zu einem neuen und wichtigen Präzedenzfall zum Schutz von Kindern und Jugendlichen führen könnte.«) Natürlich würde dieser Fall nie vor Gericht kommen. Sogar der Reporter deutete das an, wobei die Geschichte viel besser gewesen wäre, hätte er angedeutet, es könne vielleicht doch geschehen.
Der Reporter bestätigte die von Loloblog angestellte Vermutung, der vermisste Ian Drake sei mit Pastor Bobs »Ian D.« identisch. Es gab eine kurze Erklärung der Drakes, die sich nur wünschten, ihr Sohn sei in Sicherheit. »Wir unterstützen weiterhin die gute Arbeit der Glad Heart Ministries«, sagten sie.
Erst nachdem ich den letzten Absatz sechsmal gelesen hatte, wurde mir klar, dass Pastor Bob reagiert hatte, und zwar durch »eine Erweiterung der gegenwärtigen Ostküsten-Tour«, offensichtlich nutzte er jede mediale Möglichkeit, die sich ihm bot, egal wie unbedeutend sie war. Der ursprüngliche Zweck seiner Tour schien die Unterstützung und Organisation der immer geringer werdenden Gruppe von aktiven Gegnern der Schwulenehe an der Ostküste gewesen zu sein – in den Staaten, in denen die Bürgerrechtsbewegung zwar nur langsam vorankam, es aber immer deutlicher wurde, dass diese Ehen allmählich legalisiert werden würden. Ich hielt es für ziemlich mutig von ihm, mit seiner Hassflagge in Boston einzumarschieren. Es war allerdings auch möglich, dass er dort nur die Schwulenbars besuchen wollte. Der Artikel endete mit: »Lawson telefonierte mit uns aus Brattleboro, Vermont, wo er am Sonntagmorgen am Gottesdienst teilnehmen und am Abend sprechen wird.« Heute Abend.
Ich verfluchte den Computer so laut, dass die Mädchen hinter mir in der Lobby, die gerade mit ihren Basketball-Uniformen eincheckten, anfingen zu kichern. Für Vermonter Verhältnisse war Burlington ziemlich weit entfernt von Brattleboro, aber nicht weit genug, und einen Moment lang fragte ich mich, was Ian damit, dass er uns nach Vermont gelotst hatte, eigentlich bezweckte. Aber warum sollte er vor jemandem wegrennen, um ihn dann zu treffen?
Ich las noch einmal Rockys Mail, dieses kränkend steife »Pass auf dich auf«. Früher hatte er seine Mails nie unterschrieben, diese Tatsache machte seine Nachricht fast unheimlich. Als hätte er geschrieben: »Sei vorsichtig«. Oder: »Aufgepasst«.
Als ich ins Zimmer kam, hatte Ian seine Sachen bereits sorgfältig ausgepackt, und ich fragte mich, ob er das jeden Abend so gemacht hatte. In der ersten Nacht, in der wir uns ein Zimmer geteilt hatten, war ich an der Bar gewesen, als er sich eingerichtet hatte. Nun sah ich, wie er den Inhalator in die Schublade des Nachttischchens legte, dann die Fernsehprogramme
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