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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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seine Wangen füllte, bis er aussah wie ein Kugelfisch. Nun, da ich wusste, wie einfach das Medikament zu bekommen war, wurde mir klar, dass ich das schon vor Tagen hätte tun sollen, und ich ärgerte mich darüber, so lange gewartet zu haben. Ich überlegte, dass mein revolutionäres Temperament besser funktioniert hätte, hätte ich eine ausreichende Portion russischen Muts oder wenigstens russischer Tollkühnheit besessen, nicht nur die jüdisch-amerikanische Vorsichtigkeit, die ich genetisch von meiner Mutter geerbt hatte. Man stelle sich Woody Allen vor, wie er die Attacke der Leichten Brigade führt. So war ich.
    Der Schlüssel passte nicht in das Türschloss meines Autos. Ich versuchte es noch einmal, Ian rüttelte am Griff der Beifahrertür. Ich wiederholte meine Versuche, bis Ian plötzlich sagte: »Warum liegen da fünfzig Kaffeebecher auf dem Rücksitz?« Wie die Verrückten rannten wir zum richtigen Auto drei Parklücken weiter, Ian tauchte auf dem Rücksitz unter, und ich fuhr schnell auf die Hauptstraße und dann Richtung Norden. Ian dachte vermutlich, wir würden aus Verlegenheit so rasen, aus Angst, der Autobesitzer hätte uns von der Apotheke aus beobachten können. Ich war auch besorgt, ob er uns gesehen hatte, aber aus dunkleren Gründen. Ich war irgendwie erleichtert wegen seiner Inkompetenz, er hatte sein Auto verlassen, während er doch unsere Spur verfolgen sollte – es sei denn, er war uns in die Apotheke gefolgt, um uns dort zu verhaften oder um Fotos von uns zu machen oder um sich Ian zu schnappen. Aber nein, ich zwang mich zu der Vorstellung, dass Mr Sonnenbrille seinen kleinen, grünen Einkaufskorb mit Wattebäuschchen und Haargel gefüllt und gar nicht bemerkt hatte, dass wir weg waren.
    Ich fand es gut, dass wir nun Zeit hatten, Vermont zu verlassen. Andererseits war es vielleicht gar nicht so gut, dass es keine medizinische Notwendigkeit mehr gab, Ian schnellstens nach Hause zu bringen, keine unanfechtbare Ausrede, wenn ich ihn schnell loswerden müsste. Irgendwann könnte ich so nebenbei fragen, ob er bereit sei für die Rückreise nach Hannibal. Aber es müsste der richtige Zeitpunkt sein. Würde ich die Frage mehr als einmal stellen müssen, würde er auf stur schalten und niemals ja sagen. Also müssten wir fertig sein. Aber womit? Da war ich mir nicht sicher. Fertig mit seiner Wiederherstellung. Mit seiner Rettung.
    Ich brach den Schokoriegel in der Mitte durch und gab ihm eine Hälfte. Von meiner biss ich eine kleine Ecke ab, genau wie Charlie Bucket, und ließ sie auf der Zunge zergehen. Es war unglaublich wohlschmeckend, das Konfekt, das meine Familie zerstört hatte. (»In Sowjetrussland isst die Schokolade dich !«)
    Ian verschlang seine Hälfte mit zwei großen Bissen. »Jetzt geht es mir viel besser«, sagte er. »Aber, Miss Hull?«
    »Ja?«
    »Etwas stört mich beim Atmen, ich weiß nicht warum, aber du riechst irgendwie nach Rauch.«

32
    Schwindler
    Gegen elf Uhr, als die Namen der Städte französisch wurden, reichte mir Ian von hinten einen Fünfzigdollarschein. »Ich glaube, den hast du verloren«, sagte er.
    »Wo war er?«
    »Er hat aus dieser Tasche herausgeschaut.« Er meinte die Tasche auf der Rückseite meines Sitzes.
    Ich nahm den Schein, starrte Ulysses S. Grant an, als könnte er mir sagen, woher er gekommen war. »Es muss ein Teil des Geldes von der Church Street sein.«
    »Nein. Der Mann mit dem Zweig in den Haaren hat mir eine Hundertdollarnote gegeben, und die anderen nur kleinere Scheine.«
    Einen Moment lang fragte ich mich, ob Ian das Geld aus der Kasse der Apotheke gestohlen hatte oder ob er es die ganze Zeit in seinem Rucksack gehabt hatte. Aber das war der frischeste, sauberste Schein, den ich je gesehen hatte, die Kanten waren noch vollkommen glatt.
    Hätte ein zehnjähriger Junge den Schein auch nur fünf Minuten in der Hand gehabt, würde er nicht mehr so aussehen. Zugleich kam es mir unmöglich vor, dass der Schein zwei Jahre lang unentdeckt im Auto gelegen haben sollte, ein unberührtes Relikt des Fastfood essenden Fans von australischem Fußball. Es konnte nur Glenn gewesen sein. Ich hatte das Auto immer abgeschlossen, auch auf den kleinsten Parkplätzen in Vermont. Ich legte den Schein auf das Armaturenbrett, als wäre er ein Talisman.
    Die Straße, die nach Kanada führte, war eine schmale Autobahn mit Gehöften rechts und links, aber sie war ziemlich voll, und der Verkehr bewegte sich nur langsam vorwärts. Ich merkte, wie Ian neben mir

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