Ausgeliehen
damit beschäftigt gewesen, all meine Geschichten auf die Reihe zu bekommen, dass ich die Details der ersten, einfachsten vergessen hatte: nämlich dass ich Montag zurück sein wollte. Ich überlegte, ob ich sie zurückrufen sollte, aber was hätte ich ihr sagen können? Ich beschloss, Tim anzurufen.
»Lucy«, sagte er, »wo bist du?«
Ich erzählte ihm die gleiche Geschichte, die ich Rocky und Glenn aufgetischt hatte: Knochenmark, Chicago. Ich sagte, ich würde am Wochenende zurück sein.
»Dein Telefon hat gestern ununterbrochen geklingelt. Es hat mich wahnsinnig gemacht, ich habe den Stecker rausgezogen.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Und ein Mann hat nach dir gesucht. Er ist hierhergekommen.«
»Ein Mann in einem Rollstuhl?«
»Nein, und auch nicht dein Freund. Es war ein älterer Herr, so ein Typ wie Charlton Heston. Er kannte deinen zweiten Vornamen und alles. Sag, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Hat er gesagt, wie er heißt? Hatte er schwarze Haare?«
»Nein, weiße, wie Charlton Heston. Die alte Version. Er hat mir einen Namen und eine Nummer gegeben, aber ich habe sie weggeworfen. Ich bin davon ausgegangen, dass er eine Art Stalker war.«
»Vermutlich war es ein Freund meines Vaters«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass es nicht so war. »Er hat seltsame Freunde.«
»Aber mit dir ist alles okay?«
»Klar. Er ist also nur einmal gekommen?«
»Ja. Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?«
Wenn ich nachdachte, war mir klar, dass es sich um denselben Polizisten handelte, der auch in der Bibliothek aufgetaucht war und nach einer möglichen Spur gesucht hatte. Vermutlich hatte er meine Adresse von Loraine bekommen. Wenn Rocky alles herausgefunden und der Polizei davon erzählt hätte, hätte es eine breite Berichterstattung und eine großangelegte Suchaktion der Polizei gegeben, mehr als nur einen Mann, der einmal vorbeikam. Aber immerhin bewies es, dass ich ins Blickfeld der Polizei geraten war, und das gefiel mir ganz und gar nicht.
»Ich stecke nicht in der Klemme. Es war alles einfach so unerwartet. Die Reise, meine ich.«
»Klar. Wenn du bald kommst, solltest du wissen, dass wir alle am Wochenende verreisen. Wir haben die Probe am Freitag abgesagt, um zu dieser Sache nach St. Louis zu fahren. Wir hatten das Gefühl, es ist wichtig. Die ganze Truppe fährt gemeinsam hin.«
»Die Sache?«
»Du hast doch die Flyer unten gesehen, oder? Über das Kind, das weggelaufen ist? Die Kundgebung?«
»Oh, ja.«
Das Handy gab den Geist auf, den einen Netzbalken konnte ich nicht mehr zurückbekommen – nicht dass ich das gewollt hätte. Die Wände des kleinen Alkovens schienen zu pulsieren, kalt und nass. Hier war ich im hintersten Winkel des Landes, unerreichbar, und doch zog sich die Welt um mich herum zu. Polizisten waren in der Bibliothek gewesen, in meiner Wohnung, und der einzige Mensch, bei dem ich damit gerechnet hatte, dass er da sein würde, hinter der Wand meines Wohnzimmers, der Mann, der das Herz und die Seele und die laute, ungebärdige Stimme des Gebäudes war, dieser Mann hatte vor, zu der Kundgebung für das Kind zu fahren, das ich entführt hatte und das er vermutlich dazu ermuntern würde, noch schneller zu laufen. Ich schaute mich nach Ian um und erwartete fast, meinen Vater auf der Kirchenbank sitzen zu sehen, neben Rocky, Glenn, Charlton Heston, Mr Sonnenbrille und Loraine. Das ist dein Leben , würden sie sagen . Du hast das Recht zu schweigen.
»Miss Hull!«, flüsterte Ian laut vom anderen Ende des Gangs und winkte mit der Fotokopie. »Da steht, dass der Finger die einzige offiziell bestätigte Reliquie in New England ist. Und wir haben das zufällig entdeckt.«
»Das ist ein Riesenglück.«
»Was ist eine Reliquie?«
Pater Diggs schob den Kopf durch die Tür und räusperte sich freundlich, ein künstliches Hüsteln. Ian schaute zur Decke, bekreuzigte sich (ich glaube, in die falsche Richtung) und schritt feierlich durch die kleine Tür.
»Für was ist sie die Heilige?«, fragte Ian, als ich bei ihnen ankam.
»Nun, nicht jeder Heilige ist für irgendetwas verantwortlich. Aber sie ist die Schutzheilige dieser Gemeinde und die von dem Dorf in Frankreich, in dem sie gelebt hat.« Wir gingen durch einen Gang, der mit Kartons zugestellt war, und betraten einen kleinen Raum mit einem Ständer, an dem Chorroben hingen, und in einer Ecke waren Dinge aufgehäuft, die aussahen, als wären sie vom Krippenspiel übrig geblieben: Engelsflügel, Hirtenkleidung, Berge von schmutzigen
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