Ausgeliehen
langsam kribbelig wurde, aber er wollte nicht zugeben, dass er sich langweilte und dass die Aussicht auf die kanadische Grenze es doch nicht wert war, noch weitere zwanzig Minuten zu fahren. Er deutete Richtung Osten, weg von der Hauptstraße, auf eine große, weiße Kirche am Horizont und rief: »Eine große, grüne Kirche!« Er trug wieder die grüne Sonnenbrille. »Komm, fahren wir dorthin.«
»Klar«, sagte ich und fand eine Straße, die in diese Richtung führte. Es mochte vielleicht die letzte Ausfahrt vor der Grenze gewesen sein, und ich war erleichtert, dass wir nicht näher dorthin fuhren, wo wir beim Anblick bewaffneter und vermutlich gut informierter Grenzpolizisten gezwungen gewesen wären, verdächtig schnell die Straße zu verlassen oder eine unerlaubte Kehrtwende zu machen.
»Und außerdem«, sagte Ian, »ist heute Sonntag. Wir könnten es noch bis zum Ende des Gottesdienstes schaffen.«
»Es ist Montag«, sagte ich. »Wir sind eine ganze Woche unterwegs.«
Er schnappte nach Luft. »Wegen dir habe ich die Kirche verpasst!« Er sagte es nicht erfreut und staunend, wie andere Kinder es getan hätten, sondern erschrocken. Als hätte ich ihm Gift gegeben.
»Okay, dann gehen wir eben jetzt.«
Ich verfuhr mich ein paarmal, bis wir die Kirche fanden. Sie war nicht so groß und weiß, wie ich gedacht hatte. Sie war schmutzig, beinahe grau, und die Weihnachtsdekoration war fast drei Monate nach Weihnachten noch nicht entfernt worden, die Kränze und Sträuße zerbröselten, und die Schleifen hoben sich leuchtend rot von den verblassten Tannennadeln ab. Neben der Kirche war ein kleiner Friedhof, so einer mit hauchdünnen Grabsteinen, um die sich niemand mehr kümmerte. Auf dem Schild am Eingang stand: »Gemeinde Sankt Bernice. Alle sind herzlich willkommen.« Wirklich genial von mir, diesen Jungen durch halb Amerika zu fahren, um ihn zu einer katholischen Kirche zu bringen. Ich überlegte, wie ich das rückgängig machen könnte. Aber er war so glücklich, er hüpfte auf dem Sitz auf und ab, als wir auf dem leeren Parkplatz zwischen Kirche und Friedhof hielten. Ich schaltete den Motor aus und zog meinen Mantel an, aber Ian war schon draußen, noch immer mit der grünen Sonnenbrille, er lief quer durch einen übriggebliebenen Schneehaufen, um zum Seiteneingang zu kommen, klingelte und sagte etwas in die Sprechanlage. Als ich die Tür erreichte, summte es schon, und Ian drückte die Tür mit beiden Händen auf. Wir gingen hinein, und Ian trat sich auf der Matte den Schnee von den Schuhen.
Ein dünner, blasser Mann in Jeans, rotem Pulli und mit Kollar kam durch die Eingangshalle und sah leicht überrascht aus. Er blinzelte, um zu sehen, wen er gerade hereingelassen hatte, und auf den letzten anderthalb Metern streckte er Ian die Hand entgegen. »Pater Diggs«, sagte er, als er Ian erreichte und ihm die Hand schüttelte, dann ergriff er auch meine Hand und schüttelte sie. »Oder Pater Oskar, wenn es Ihnen lieber ist. Oder nur Oskar!« Ein Mann, dessen Name an »graben« denken ließ, in unmittelbarer Nähe eines Friedhofs – das war schon zu sehr Dickens, um wahr zu sein. Aber er stand vor uns, groß, pockennarbig und schlaksig. »Entschuldigen Sie meine informelle Art. Während der Woche haben wir kaum Besucher. Wir sind eine kleine Gemeinde.« Er lächelte und strich sich den Pulli an den knochigen Schultern glatt. »Ich nehme an, Sie sind hier, um den Finger zu sehen.«
Ian schaute mich an, dann den Pfarrer. Ich nahm ihm die grüne Brille ab. »Ja«, sagte Ian. »Wir würden definitiv gern den Finger sehen.« Ich nickte verblüfft, freute mich aber, dass Ian das Kommando übernommen hatte. Ich war schon panisch, weil ich gefürchtet hatte, der Pfarrer würde Ian die Beichte vorschlagen und Ian würde in den Beichtstuhl hineingehen und ihm haarklein erzählen, wer wir waren.
Pater Diggs lächelte mich über Ians Kopf hinweg an. »Das dachte ich mir. Ich zeige ihn den Leuten immer gern. Haben Sie im Reiseführer davon gelesen? Irgendjemand hat in einem Reiseführer darüber geschrieben, aber das ist schon lange her. Kommen Sie doch in den Altarraum und sehen sich um, während ich den Schlüssel hole.« Wir folgten ihm um die Ecke. Er betätigte eine Reihe von vier Lichtschaltern, und der Kirchenvorraum um uns herum wurde hell.
»Sind Sie aus der Gegend?«
»Ja«, sagte Ian. »Wir kommen aus Concord, das ist die Hauptstadt von New Hampshire. Aber wir sind nicht katholisch. Wir sind eine protestantische
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