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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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dass alles, was ich über Ian und seine Familie dachte, falsch war? Das Einzige, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, war, wie Janet Drake ihn die Treppe hinaufgezerrt hatte, während er schrie, es tue ihm schon leid. Aber wer konnte wissen, was er an jenem Tag falsch gemacht hatte? Vielleicht hatte er ja die Katze erwürgt. Und da er gesagt hatte, die Gabelmarkierungen auf seiner Stirn stammten von ihm selbst, musste ich mich nun fragen, wovor ich ihn eigentlich retten wollte. Er war ein zehnjähriger Junge, der dachte, seine Eltern seien nicht immer fair zu ihm. Ein großes Trauma.
    Aber Pastor Bob war sehr real, und ich hatte selbst gesehen, wie es mit Ian in diesem Winter bergab gegangen war. Das hatte ich mir nicht eingebildet. Ich glaubte einfach nicht, dass ich mir das bloß eingebildet hatte.
    Einer der wenigen Gedanken, an die ich mich klammern konnte, war, wie froh ich war, dass wir uns von Brattleboro entfernten, weg von dem Ort, an dem Pastor Bob aufwachen und sich selbst zu der Rede beglückwünschen würde, die er am Abend zuvor gehalten hatte, um dann mit dem Bobmobil in die nächste Stadt in New England zu fahren, die vor Toleranz gerettet werden musste. Wo immer er auch hinfahren würde, es würde nicht so weit in den Norden sein, es sei denn, er wollte zu den Kühen predigen. Und es gab noch etwas anderes: Wenn ich bisher alles falsch beurteilt hatte, konnte ich doch auch Ians Gründe, nach Vermont fahren zu wollen, falsch eingeschätzt haben. Was war, wenn Bob in seiner verklemmten und leicht psychotischen Verfassung begonnen hatte, Jungs zu manipulieren, damit sie ihn unterwegs trafen, egal wie sie dorthin kamen? Was, wenn er sie bedroht hatte, bis sie wegliefen und junge, naive Bibliothekarinnen zwangen, sie mitzunehmen? Das ergab keinen Sinn. Aber Logik schien mir für die Ereignisse in meiner Welt überflüssig zu sein.
    Ian hat kaum gesprochen, seit ich in seiner Gegenwart geflucht hatte. Um mich mit ihm zu versöhnen und um eine noch größere Distanz zu Pastor Bob zu bekommen, sagte ich: »Ich mache mit dir ein Geschäft. Wir werden einen Blick auf Kanada werfen. Wir schauen, ob wir Gänse, Schinkenspeck und Hockey sehen können. Und die staatliche medizinische Versorgung.« Erwartungsgemäß schaute er mich verdutzt an. Ich war wirklich gemein. Ich war müde und ausgetrocknet und hatte Hunger, ich funktionierte nur noch auf Adrenalin, aber das gab mir nicht das Recht, über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Ich atmete tief ein, zum ersten Mal nach vielen Tagen. Ich sagte: »Aber zuerst müssen wir für dich das Medikament besorgen. Zu welcher Apothekenkette gehst du normalerweise?«
    »Walgreens. Zu der Filiale in Hannibal.«
    »Perfekt.« In einem klarsichtigen Moment hatte ich am Abend zuvor im Internet gecheckt, dass es in ganz Vermont drei Filialen von Walgreens gab. Eine war weit im Süden, in Rutland, eine in Brattleboro, wo wir direkt in Pastor Bob laufen könnten, und eine irgendwo in der Pampa, etwa sechzig Kilometer weiter östlich.
    An diesem Punkt entschied ich, dass wir nicht mehr länger als einen oder zwei Tage in Vermont bleiben würden, sogar wenn wir das Geld dafür hätten. Ich bezweifelte, dass der Kassencomputer von Walgreens mit der Polizeidienststelle in Hannibal vernetzt war, aber auch ohne diese Möglichkeit könnte die Belastung der Drake’schen Krankenversicherung die Suche nach uns in Bewegung setzen. Wenn wir Vermont verließen, würden sie unsere Spur verlieren.
    Eine Stunde später standen wir in der Apotheke, und ich gab Ians richtigen Namen an. Man ließ uns warten, und während Ian Bon Appétit durchblätterte, ein Heft mit Kochrezepten, und zu jedem Foto seinen Kommentar abgab (»Lecker!«, »Igitt!«, »Lecker!«), wurde ich langsam panisch und dachte, vielleicht ließen sie uns ja so lange hier sitzen, weil sie darauf warteten, dass die Polizei käme. Wie viel Zeit brauchte man, um das Medikament für einen Inhalator zu besorgen? Sie mussten schließlich nicht auf eine Maschine warten, die Pillen abzählte.
    Nach zwanzig Minuten wurden wir aufgerufen und brauchten nur dreißig Dollar zu bezahlen, plus neunundsiebzig Cent für den Schokoladenriegel, der wohl mein Mittagessen sein würde. Die Frau fragte, ob ich Fragen an den Apotheker hätte. Nein, ich hatte keine. Viele Fragen an einen Ethiker, aber keine an einen Apotheker.
    Als wir die Apotheke verließen, sprühte Ian mit dem Inhalator dreimal in die Luft, bevor er ihn zu seinem Mund führte und

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