Ausgeliehen

The Cure. Ich verbrachte fünf vergebliche Minuten damit, Ian das Konzept von Grunge zu erklären. Ich hörte ihn neben mir keuchen. Wir hatten nur noch dreihundert Dollar, einschließlich des Fluchtgelds, und in diesem Teil des Staates konnten wir keine große Bettelernte erwarten. Lastwagen parkten vor Bauernhäusern, die man vor fünfzig Jahren hätte verlassen sollen, Häuser, deren Mauern so marode und windschief waren, dass sie wie Gemälde von Dalí aussahen. Ich wusste, wenn wir kein Geld fanden, das einfach irgendwo herumlag, würde es nur noch für einen Tag reichen.
    »Ich vermisse die Bibliothek sehr«, sagte Ian.
    »Das tut mir leid.«
    »Mr Walters hat gesagt, er würde mir sein Purpurherz zeigen, aber es ist nie dazu gekommen.«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Rocky Walters von der Bibliothek? Sein was?«
    »Sein Purpurherz, der Purple-Heart-Orden, den er für seine Kriegsverwundung bekommen hat.«
    Ich nahm den Fuß vom Gas, damit ich mich zu ihm drehen konnte, um einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. »Ian, wovon sprichst du? Welcher Krieg? Meinst du wirklich Mr Walters von der Bibliothek?«
    »Ja, er war im ersten Irakkrieg oder so ähnlich. Ich habe gedacht, du bist mit ihm befreundet.«
    Ich schaute vor mich auf die leere Straße, auf die toten Blätter, die herumflogen wie Krebse im Zeichentrickfilm. »So«, sagte ich langsam, »du meinst also, er sitzt wegen einer Verwundung im Rollstuhl?«
    »Ja. Davor war er vollkommen normal. Meine Mutter kennt ihn noch von der Schule. Er hat als Junge bei meinem Großvater den Rasen gemäht, also muss er normal gewesen sein.«
    »Verdammter Mist«, sagte ich, »wovon sprichst du?« Nun war es passiert, ich hatte vor einem zehnjährigen Kind geflucht. Klasse. Fabelhaft. Ian hörte auf zu sprechen, schlug sein Buch über Heinrich VIII . auf, vergrub sein Gesicht in den Seiten und atmete hastig. Er dachte, er sei in Schwierigkeiten. Vielleicht dachte er auch, dass die Hand Gottes herabfahren und mich zerschmettern würde, und er wollte so tun, als hätten wir uns nie getroffen.
    Ich habe Rocky nie nach seinem Zustand gefragt, doch das war aus Taktgefühl. Ich hielt mich für lässig und verständnisvoll, indem ich alles selbstverständlich hinnahm und so tat, als sei es nicht erwähnenswert. Ich versuchte mich zu erinnern, ob er mir jemals etwas über seine Kindheit erzählt hatte, über seine Zeit an der Highschool oder als Pfadfinder oder über seinen Bruder. Einmal hatte er von einem Staffellauf in einem Camp gesprochen, als wir einen Familientag geplant hatten, doch ich hatte mir zwanzig kleine Jungs in identischen Rollstühlen vorgestellt, in deren Rädern Baseballkarten steckten, um Lärm zu erzeugen. Mir schien, als habe er absichtlich jedes Gespräch über Sport, Schwimmunterricht, Stockbetten, gebrochene Beine oder Fahrten mit einem Auto vermieden, sofern es sich nicht um seinen Kombi handelte. Oder über die gesamte Armee der USA . Ich fragte mich, ob er es getan hatte, um mich zu bestrafen, weil ich mich nie danach erkundigt hatte, oder ob es für ihn zu schmerzhaft war, über eine Zeit zu sprechen, in der er durch die Stadt gehen konnte, den Kopf hoch über den Taillen der anderen Menschen, eine Zeit, in der er nicht mit seiner Mutter zusammengelebt hatte.
    Während wir weiterfuhren, fragte ich Ian alle paar Minuten, ob er sich sicher sei, und er bestätigte mir, dass er Rockys Foto im Jahrbuch seiner Mutter gesehen habe und dass er im Baseball-Team gewesen sei. Mir war schlecht. Vielleicht vor Hunger, aber eher durch die Erkenntnis, dass Rocky und ich uns nie so nahe gewesen waren, wie ich gedacht hatte. Bisher waren meine Alpträume gedämpft gewesen, weil ich davon ausging, dass Rocky vielleicht Detektiv spielen und den Fall des gestohlenen Jungen lösen könnte, mich trotzdem aber beschützen würde. Die ganze Zeit hatte ich gedacht, Rocky sei in mich verliebt, und jetzt musste ich feststellen, dass ich ihn kaum meinen Freund nennen konnte. Ich konnte nicht mehr geradeaus sehen. Er war mit Janet Drake zur Schule gegangen. Was bedeutete es, wenn er sie sehr gut kannte? Wenn er ihr Freund gewesen war? Warum hatte er es nie erwähnt?
    Es gab aber noch ein anderes Problem, abgesehen von dem Schock, abgesehen von meiner neuen Angst, was Rockys Loyalität betraf: Wenn ich über Rocky nichts wusste, wenn ich über meinen eigenen Vater nichts wusste – wenn, kurz gesagt, meine Wahrnehmung so ungenau war –, könnte es dann nicht sein,