Ausgelöscht
sicher.«
»Wir haben alle unseren Ehrenkodex«, sagte Heller. »Ich würde niemals verlangen, dass Sie den Ihren brechen.« Er deutete mit einem Nicken auf Billys Zimmer. »Nebenbei bemerkt, Ihr Junge wird sich schon zurechtwachsen. Er hat ein wirklich gutes Herz.« Er zuckte mit den Achseln. »Man kann nie wissen, unter all dem Haar und den Piercings könnte ein Neurochirurg stecken.«
»Man kann nie wissen.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Heller drehte sich um und ging hinaus.
Clevenger ging zu Billys Zimmer. Die Tür war geschlossen. Kein Licht schien darunter hervor. Entweder schlief Billy, oder er tat so. Clevenger wäre am liebsten hineingegangen und hätte ihn geweckt, um einen überzeugenderen Versuch zu machen, an Billys Begeisterung über Heller und die Operation teilzuhaben. Doch er wusste, dass er nur das übliche »Später, okay? Ich bin erledigt« ernten würde.
Er ging zu seinem Schreibtisch vor der Fensterwand mit Ausblick auf die Tobin Bridge, setzte sich und öffnete den Umschlag, den Jet Heller ihm gegeben hatte. Er blätterte zur Anamnese, geschrieben von einem gewissen Dr. Jan Urkevic, und las den Abschnitt mit der Überschrift »Gegenwärtiger Krankheitsverlauf«.
Dr. Snow, ein 54-jähriger, verheirateter Vater von zwei Kindern, der unter Epilepsie leidet, unterzieht sich der Begutachtung zur Feststellung seiner Zurechnungsfähigkeit im Vorfeld eines neurochirurgischen Eingriffs, der sehr ernste Risiken, einschließlich Blindheit und Sprachverlust, birgt. Er ist als freiwilliger Proband vorstellig geworden und erklärt, dass er sich mit dem Ersuchen um dieses Gutachten den Wünschen von Familienmitgliedern – speziell seiner Frau – fügt. »Sie muss wissen, dass ich rational denke, dass ich bei der Entscheidung, der Operation zuzustimmen, Nutzen und Risiken abgewogen habe – selbst wenn sie mit meiner Entscheidung nicht übereinstimmt.«
Dr. Snow beschreibt den geplanten Eingriff als »experimentell«. Dr. J. T. Heller wird bestimmte Abschnitte seines Gehirns entfernen, in dem Bestreben, die Anfall-Foci zu beseitigen, die für Dr. Snows Epilepsie verantwortlich sind, eine Erkrankung, die er als »lebenslängliche Gefangenschaft in mir selbst« beschreibt. Er sagt aus: »Mein Gehirn ist kaputt. Es kommt zu Kurzschlüssen, wenn mein Verstand meine besten Ideen hervorbringt. Meine Nervenbahnen können nicht mit den elektrischen Impulsen fertig werden, die meine Vorstellungskraft erzeugt.«
Dr. Snow ist sich bewusst, dass es sich bei dieser Aussage um eine Metapher handelt, mit der er seinen Zustand beschreibt. Er ist sich vollends bewusst, dass die Entfernung der Anfall-Foci in seinem Gehirn – selbst wenn die Operation ihn von seiner Epilepsie heilt – möglichweise nicht in einer gesteigerten intellektuellen Funktionsfähigkeit resultiert. Er ist bereit, die Risiken der Operation (welche er akkurat auflistet) in Kauf zu nehmen, ungeachtet dessen, ob er in dieser Hinsicht einen Zugewinn erfährt.
Dr. Snow ist promovierter Luftfahrtingenieur und arbeitet als Erfinder in einem Unternehmen, dessen Mitgründer er ist (Snow-Coroway Engineering). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er außerstande wäre, Aufgaben auszuführen, die Erinnerungsvermögen, Konzentration oder rationale Entscheidungsfähigkeit verlangen.
Clevenger überflog die Seiten, bis er zu dem Abschnitt »Psychiatrische Krankengeschichte« kam, aus dem hervorging, dass Snow verneint hatte, in der Vergangenheit an irgendeiner psychiatrischen Erkrankung gelitten oder einen Psychiater konsultiert zu haben. Unter »Untersuchung des Geisteszustands« hatte Urkevic notiert, dass Snow bestritt, Selbstmord- oder Tötungsfantasien zu hegen oder an irgendwelchen Halluzinationen zu leiden. In seiner abschließenden Zusammenfassung erklärte er Snow für zurechnungsfähig, vorbehaltlich der Ergebnisse der psychodiagnostischen Untersuchung.
Clevenger überflog die Seiten, bis er einen »Psychologischen Untersuchungsbericht« von Dr. Kenneth Sklar fand. Das war der Teil von Snows Krankenakte, der den besten Einblick in seinen Intellekt und sein emotionales Innenleben bieten würde, einschließlich einer möglichen bewussten oder unbewussten Todessehnsucht. Die Bewertung beinhaltete eine Vielzahl von Verfahren, einschließlich Intelligenztests, Persönlichkeitserfassung und Tintenklecksen.
Clevenger begann zu lesen.
PSYCHODIAGNOSTISCHE VERFAHREN:
Gespräch
Rorschach-Test
Thematischer Apperzeptionstest
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