Ausgelöscht
überquellen. Was geschieht, wenn eine solche Frau kein Verlangen mehr nach einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Mann und ihren Kindern verspürt? Was, wenn sie sich fühlte, als würde sie nicht existieren?
Ist sie depressiv? Braucht sie Zoloft? Eine höhere Dosis? Zwei Medikamente? Oder ist es möglich, dass ihr Leben sie so weit von ihrer inneren Wahrheit fortgeführt hat, dass sie praktisch ein Zombie ist – eine lebende Tote?
Hat diese Frau das Recht – moralisch und ethisch –, ihr Heim und ihre Familie und ihre Freunde zu verlassen, sich so vollständig von ihnen zu trennen, dass sie keine Erinnerung mehr an sie hat? Sie hat ihre Kinder in die Welt gesetzt – steht sie deshalb für den Rest ihrer Tage in ihrer Schuld, oder steht es ihr frei, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und ihrer Wege zu gehen, sich eine neue Zukunft ohne sie zu schaffen?
Die Antwort kann nur ein uneingeschränktes »Ja« sein.
Ein Mensch kann spirituell tot sein, so dass der Kadaver seiner Seele in einem Käfig aus Haut und Knochen gefangen ist, der ihn überlebt hat. Welche Mutter oder Vater, Schwester oder Bruder, Ehemann oder Ehefrau würde seine oder ihre Anhänglichkeit an eine gemeinsame Vergangenheit über die Zukunft jenes Menschen stellen –über seine Wiedergeburt?
Wahre Liebe würde niemals solches Leiden verlangen.
Clevenger legte das Tagebuch beiseite. Ihm wurde bewusst, wie sehr sich John Snows Weltbild von seinem unterschied. Clevenger glaubte fest daran, dass Menschen sich verändern und wachsen können, egal, wie sehr sich die Umstände gegen sie verschwören. Mit dem richtigen Ansporn und der richtigen Anleitung und, ja, manchmal sogar mit der richtigen Medikation konnten sie sich neu erschaffen und die Vergangenheit überwinden. Das war damit gemeint, ein erfolgreiches Leben zu leben. Es konnte schmerzlich sein, manchmal quälend, doch es war ein Schmerz, mit dem sie allein fertig werden mussten. Jenes Leiden an andere weiterzugeben, indem man sich durch einen chirurgischen Eingriff von einem Drama befreite, um ein anderes zu beginnen, war für Clevenger unmoralisch. Es mochte der Seele eines Menschen das dringend benötigte Lebensblut wiedergeben, doch dafür würden ein Dutzend andere verbluten.
Er dachte an Theresa Snows Einschätzung ihres Mannes als Narziss, unfähig, die Bedürfnisse von anderen gegen seine eigenen abzuwägen. Und vielleicht war das der Kern der Sache. Aber die Frage musste dennoch gestellt werden: Was hatte Snow an den Punkt gebracht, dass er glaubte, er sei ein Toter in einem lebendigen Körper und seine Geschichte habe ihr Ende erreicht?
Etwas hatte John Snow getötet, bevor er in jener Gasse von einer Kugel niedergestreckt worden war.
Clevenger blätterte weitere Seiten des Tagebuchs durch. Die nächsten zehn, zwölf Seiten waren mit Berechnungen und Zeichnungen gefüllt, die sich offenkundig auf Vortek bezogen, Snows letzte Erfindung, die sich nun in den Händen von Collin Coroway befand. Clevenger betrachtete die Rakete, in einigen Skizzen größer, in anderen kleiner, manchmal mit Flügeln, manchmal ohne. In einigen Zeichnungen war sie geöffnet, und Snow hatte Spulen in ihrem Innern hinzugefügt.
Clevenger schlug eine weitere Seite um und starrte unvermittelt auf ein chaotisches Gewirr aus Buchstaben, Zahlen und mathematischen Symbolen. Sie waren noch winziger als Snows übliche Handschrift, formierten sich hier zu einer gestrichelten Linie, dort zu Bögen, manchmal zu gestaltlosen Wolken aus Buchstaben und Zahlen. Er hielt die Seite weiter weg und starrte angestrengt darauf. Und dann begann das augenscheinliche Chaos langsam, Gestalt anzunehmen. Haare. Augen. Eine Nase. Lippen. Er schaute noch angestrengter hin. Und dann erkannte er staunend, dass er Grace Baxters Gesicht vor sich sah.
Begegnungen
Ein Frühlingstag, neun Monate zuvor
Alles schien brandneu. Die Tage waren lang, und die Sonne strahlte, und die Blumen im Public Garden blühten rosa und blau und weiß am Ufer des Sees, auf dem die so beliebten Schwanenboote unter flüsternden Bäumen dahintrieben.
Die Fenster der Suite standen offen, die Vorhänge waren aufgezogen, die zarten Gardinen wallten in dem warmen Luftzug, der hereinwehte. Grace Baxter und John Snow lagen nackt auf dem Bett, umspielt von der sanften Brise, eingelullt vom leisen Rauschen des fernen Straßenverkehrs, und stellten sich vor, sie lägen nebeneinander draußen im Park auf dem weichen Rasen.
Er war an der Reihe bei dem
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