Ausgerockt - [Roman]
sich dann einfach auf den Teppich, die Köpfe auf die Kissen, direkt unter einem Dachfenster, sahen in den Himmel, blickten den Düsenjets hinterher und redeten über Musik. Oder über den Tod.
Seit zwei Monaten war Hannah tot.
Die Blumenbank, auf der Linus saß, neigte sich unmerklich zur Seite und brach plötzlich ein.
Linus erhob sich lachend, freute sich, dass der neue Besitzer die Blumenbank nutzlos vorfinden würde, und ging ins Haus.
Es roch nach altem Staub und Putz, aber darunter glaubte er die vertrauten Gerüche des Lebens wahrzunehmen, das hier einmal stattgefunden hatte. Das Essen aus der Küche, der Duft frisch gemähten Rasens oder nasser Erde, der durchs gekippte Fenster ins Haus gelangte, der einzigartige Geruch einer Nordmanntanne in der Ecke des Wohnzimmers, ein frisch tapeziertes Kinderzimmer, Essen, immer wieder Essen, gebratene Frikadellen und Waffeln mit heißen Kirschen, nasse saubere Wäsche an der Leine, Hannahs Kaffee, ihr Haarspray, Marks Rasierwasser und seine ersten heimlichen Zigaretten. Olfaktorische Erinnerungen, so frisch wie die Wunde in Linus’ Herzen.
Er fuhr mit der Hand über die Wände des Wohnzimmers, langsam, als wolle er sich von jedem einzelnen Quadratmeter verabschieden.
»Ja klar«, flüsterte er, »du kannst nicht zurückkommen.«
Er versuchte zu weinen, er hatte das oft versucht. Die Leute rieten ihm, es zu tun, alles rauszulassen, versprachen, es würde helfen, ihn erleichtern. Aber Linus konnte es nicht.
Am Nachmittag gingen Holger und er wieder auf den Dachboden. Holger richtete sein Schlagzeug aus und machte Fingerübungen, Linus schaltete seinen Verstärker ein und stimmte die Saiten seiner Gitarre, als Holger sagte: »Wir sollten uns einen Bassisten suchen.«
Über das Haus schoss ein Düsenjäger hinweg. Linus sah zum Dachfenster hinaus und antwortete: »Wir sollten uns The Planes nennen.«
Ihre ersten Songs bestanden aus gradlinigen Riffs und soliden Beats, einem schrillen Gesang und glänzenden Augen, wobei der Glanz in Linus’ Fall von Tag zu Tag verschiedene Gründe gehabt hatte.
Einer der Gründe war die Musik, denn ihre Songs waren selbstverständlich das Beste, was sie jemals in ihrem jungen Leben gehört hatten.
Es war Mitte September und immer noch sehr warm draußen, die Innenräume aufgeheizt. Aus den Lautsprechern einer kleinen Kompaktanlage erklang Musik des Buena Vista Social Club .
Linus hörte die Musik nicht wegen der instrumentalen Virtuosität oder der besonders authentischen Gesänge. Die Songs ertönten aus einem ganz praktischen Grund aus den Boxen der billigen Hi-Fi-Anlage. Sie waren ein geeigneter Soundtrack für körperliche Arbeit.
Die Musik machte nicht zwangsläufig glücklich, aber sie sorgte für eine solide geschäftige Grundeinstellung.
Eine solche Einstellung war angebracht, wenn man auf den Knien einen Dielenboden auf einer Fläche von knapp siebzig Quadratmetern abschliff.
Die Restauration der Dielen war nur eine von vielen Aufgaben, die Linus zu erledigen hatte. Da konnte das Rumba-Salsa-Merengue-Gerassel schon hilfreich sein.
Die Musik füllte Raum und Geist mit Zuversicht, etwas, das ihm in den letzten Monaten oft gefehlt hatte.
Als er seinen Blick über den Boden gleiten ließ, stellte er verwundert fest, um wie viel sich der Anteil der geschliffenen Ladenfläche vergrößert hatte, im Gegensatz zu dem mit Brand- und Wurmlöchern verzierten ungeschliffenen Teil.
Immer wieder drangen brummende Laute menschlicher Anstrengung durch die Musik und den schrillen Lärm des Schleifgerätes.
Die Geräusche stammten von Brunssen. Er versuchte, eines der Dielenbretter mit einer Brechstange vom Unterkonstrukt zu lösen. Er machte eine Handbewegung, als wollte er den Boden tätscheln, ohne ihn zu berühren. Linus schaltete das Schleifgerät aus.
»Können wir nicht mal einen …«, Brunssen konnte nicht von dem Dielenbrett ablassen, während er sprach, »… soliden … deutschen … Marsch auflegen?«
»Einen deutschen Marsch? Sieg heil.«
»Ach was, nee«, ächzte Brunssen. Die Diele knarzte bitter. »Man sollte deutschen Marsch auf keinen Fall mit den Nazis in Verbindung bringen. Marschmusik ist etwas Militärisches, los, du scheiß Brett, und das hat nichts mit brauner Gesinnung zu tun.« Die Diele knarzte. »Die Marschmusik … hat in Deutschland eine so lange Tradition …, da war Hitler noch das …, komm schon, du Drecksteil …, was er auch besser geblieben wäre: … nicht … existent!«
Es krachte.
Weitere Kostenlose Bücher