Ausgerockt - [Roman]
ihn traurig an.
»Richtig?« Er versuchte ein normales Lächeln, doch er war sicher, dass es misslang. Es fühlte sich zumindest misslungen an.
Er trug zwei Kisten auf einmal, wackelte krumm in den Laden, weil es viel zu schwer für ihn war.
Brunssen kam ihm entgegen und holte den Rest. »Los, Jana. Wagen parken, feiern kommen!«, hörte Linus ihn rufen.
Jana reagierte nicht.
Während Brunssen kurz darauf die Getränke unter dem Tresen verstaute, stand Linus daneben, sah zum Schaufenster hinaus und beobachtete, wie Jana zögerlich in ihren Wagen stieg und losfuhr.
»Jana fährt noch eben den Wagen parken«, schnaufte Brunssen.
Linus blickte weiter aus dem Fenster. »Hat sie das gesagt?«
Brunssen tauchte unter dem Tresen hervor und schlug sich die Hände aneinander ab, um getane Arbeit zu signalisieren.
»Wo sollte sie sonst hinwollen?«
Es war ein Ausblick wie durch verschmierte und zerkratzte Gläser einer Sonnenbrille. Ein matter Schleier, dessen er sich nicht entledigen konnte, weil der Schleier nicht auf den Dingen lag, sondern über ihm selbst.
Schnell war ihm klar geworden, dass er den Abend, die Nacht, nur ertragen konnte, indem er aufbrechen würde, sich schleunigst in Bewegung setzen und von hier verschwinden würde, egal wohin.Hauptsache Bewegung, raus aus der verschleierten Zone, weg von der Dämmerung.
Lennards alter Ford Taunus röchelte vor sich hin, spuckte Ruß und Öl und klapperte da, wo es dem Fahrer am unbehaglichsten war. Unter dem Fahrersitz.
Es war kurz vor zehn, der Lichtkegel des Wagens glitt über den Asphalt. Linus fand, dass zu viele Leute unterwegs waren. Wohin, so fragte er sich, wollen die nur alle? Warum saßen sie nicht zu Hause vor dem Fernseher? Warum gehörte das kurze Stück Autobahn zwischen Bremen und Hamburg an diesem Abend nicht ihm alleine? Wenigstens an diesem einen Abend. Verdammt.
Er hatte Lennard um neun Uhr angerufen und gefragt, ob er sich für eine Nacht den Ford borgen dürfe. Er hätte ebenso gut Brunssen anrufen können, dann hätte er jetzt in einem komfortablen Mercedes gesessen, ohne Klappern und Vibrieren.
Aber Brunssen hätte er vorher erklären müssen, wofür er den Wagen brauchte. Danach war ihm nicht zumute gewesen.
Linus wollte überhaupt nicht über sich reden. Etwas in ihm fühlte sich brüchig an. Er musste es gut verpackt an einen sicheren Ort bringen, statt es zu öffnen.
Daher Bewegung. Daher Lennard, denn der fragte nichts, machte kein neugieriges Gesicht, sagte bloß: »Klar. Steht hier. Komm vorbei. Tank ist aber leer.«
Eine halbe Stunde später hatte Linus bei Lennard vor der Tür gestanden und sich die Autoschlüssel geben lassen. Das war eine Sache von einer Minute gewesen.
Linus hatte »Hi« gesagt, Lennard »Hi« erwidert, dabei seinen Arm gehoben, an dem die Autoschlüssel baumelten. Linus hatte seine Hand aufgehalten, Lennard losgelassen, Linus aufgefangen und gesagt: »Bring ihn morgen wieder«, worauf Lennard geantwortet hatte: »So lange du willst«, und Linus hatte genickt, war eingestiegen und zur nächsten Tankstelle gefahren.
Der Ford schaffte hundertsechzig Kilometer pro Stunde, doch ab hundertzwanzig wurde das Klappern so bedrohlich und der Motor so laut, dass Linus mit einer Geschwindigkeit von zirka hundert auf der rechten Spur blieb. Gelegentlich drängelte ein Lkw, wenn Linus, in gedankliche Starre geraten, die neunzig unterschritt. Und ein paar Mal überholte er, wenn ihm der Raum zwischen zwei Lastern zu bedrohlich wurde.
Doch die meiste Zeit bekam er so was gar nicht mit. Er lenkte den Wagen einfach nur geradeaus. Nicht denken, nicht fühlen, ab und zu innehalten um sicherzugehen, dass in ihm noch alles verschlossen war.
Richtung Hamburg, einfach nur, weil Hamburg nicht Bremen war. Weil Hamburg nicht Jana war, weil in Hamburg nicht sein Scheitern war, weil Hamburg woanders war.
Irgendwo vor Hamburg nahm er eine Abfahrt, die er nicht kannte. Bei aller Apathie – die einfachsten menschlichen Bedürfnisse ließen sich nicht ignorieren.
Linus stieg eine steile Böschung hinab, um sich unter einer Autobahnbrücke zu erleichtern. Als er zum Wagen zurückging und dabei das Rauschen der Autobahn hörte, verspürte er die Traurigkeit wie einen Riss in seinem Inneren.
Das Rauschen der Autobahnen – für ihn war es Akustik gewordenes Fernweh. Es löste Sehnsucht nach einem anderen Leben aus. Es war Ausdruck der Vielfalt der Leben. Es wies in die Ferne, dorthin, wo die anderen waren, wo man keine Details
Weitere Kostenlose Bücher