Ausgerockt - [Roman]
mit ihren gepflegten hinterzimmerschmutzigen Pornoläden, ihren dunklen, stinkenden, duftenden Kneipen, ihrem zwiespältigen Charme, der allgegenwärtigen Ahnung seelischer Gebrechen nichts weiter als eine Swimmingpool-Party auf MTV.
Linus hasste es. In diesem Moment hasste er diesen Scheiß.
Er hasste die betrunkenen Gehirne und die Eltern, die ihre Kinder hierherkommen ließen. Er hasste es, dass ihm der Anblick des Lidl-Marktes ein heimischeres Gefühl vermittelte als der Anblick seiner eigenen trockenen Hände auf dem Lenkrad. Er wollte das nicht.
Es knallte an der Beifahrerscheibe. Er zuckte zusammen. Ein grölender Typ mit glasigem Blick und schmutzigem Stoppelbart bedeutete Linus, ihn einsteigen zu lassen. Linus Blick fiel auf den Knopf der Beifahrertür. Unten. Dicht.
Er kurbelte die Scheibe auf der Fahrerseite hoch, der Verkehr kam wieder ins Rollen und er fuhr los, ohne den Typen noch mal anzusehen.
Am Ende der Meile studierte er die Richtungsschilder. Endlich fand er einen Ort, der ihm bekannt war, an dem er sein wollte, in dieser Stadt.
Er hielt sich links, dann rechts. Bald kamen ihm die Straßen vertrauter vor, bald stand er an einer Ampel und konnte etwas nach rechts blickend schon die Binnenalster erkennen.
Hannah war früher ein paar Mal mit ihm hierhergefahren. Andere waren in die Schweiz oder nach Italien gefahren, wochenlang, Hannah hatte Hamburg oder Sylt vorgezogen, und weil Linus nichts anderes gekannt hatte, war es für ihn das Größte gewesen.
Er bog in den Neuen Jungfernstieg ein. Er parkte Lennards Ford vor dem Eingang des Hotels Vier Jahreszeiten. In dem kräftigen Licht über dem roten Teppich des Hotels fühlte er sich beobachtet. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand ein Concierge.
Er startete den Motor wieder, fuhr noch ein paar Meter weiter, bis er eine zweite Parklücke fand, in die er schließlich einparkte.
Er schaltete den Wagen ab, blieb einen Moment sitzen und lauschte dem blechernen Knacken des abkühlenden Motors und den Stimmen des Concierges und eines Gasts vor dem Hotel.
Es war kurz vor Mitternacht.
Den ganzen Tag hatte er gehofft, Jana würde anrufen. Nachdem sie am Freitagabend die Getränkereserve geholt hatten, war Jana nicht wieder zur Eröffnung gekommen. Linus hatte sich daraufhin maßlos betrunken.
Besonders, nachdem alle Gäste, die er nicht kannte, gegangen waren, hatte es für ihn kein Halten mehr gegeben. Dass Brunssen sich solidarisch gezeigt und mitgetrunken hatte, hatte es nicht besser gemacht.
In einem irreführenden Rum-Cola-Rausch am Abend hatte er gedacht, alles würde gut werden, und er, der große Ladenbesitzer, würde binnen kurzer Zeit irgendwie auch Jana zurückgewinnen. Und vielleicht, so hatte er noch gedacht, betrunken wie er war, würde aus dem einen Laden sogar eine Kette werden. Vielleicht würde er das Konzept verkaufen, dann würde er Franchisegeber sein.
Doch was immer man in besoffenem Geiste glaubt, zerfällt am nächsten Tag zu Staub.
Und Linus’ Erwachen am Morgen war nur der Beginn eines viel größeren Erwachens gewesen.
Apathisch hatte er in seinem Zimmer gesessen und das Telefon angestarrt, hatte nicht gedacht, nur gefühlt.
Linus nahm seine Jacke vom Beifahrersitz, stieg aus, schloss den Ford ab und lief ein paar Schritte zum Wasser.
Von Norden wehte der Wind musikalische Bruchstücke aus dem Alsterpavillon zu ihm hinüber. Er krallte sich an das metallene Geländer und atmete die Atmosphäre.
Er schaltete sein Handy aus, eine Maßnahme, die eigentlich keinen Sinn machte, weil ohnehin niemand anrufen würde. Aber es gab ihm das Gefühl, selbst über seine Abgeschiedenheit entschieden zu haben.
Linus, ein Trotzkopf, auch das noch.
Er lief los, startete die erste von insgesamt sechs Umrundungen der Binnenalster, nüchtern, wach und im vollen Bewusstsein, dass er alleine war.
Die Signale der Stadt beruhigten ihn. Die Stadt schlief nicht.
Als seine Füße zu schmerzen begannen, setzte er sich auf eine Bank an der Nordseite der Binnenalster. Wenige Bänke von ihm entfernt schleuderten ein paar Jungs ihre leeren Bierflaschen gegen die Außenmauern der Aufgänge zur Brücke.
Linus ließ sich davon nicht beeindrucken. Sein Blick hatte sich an die ruhige Wasseroberfläche geheftet, auf der sich die Spiegelungen gelber und weißer Lichter streckten. Lichter der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite. Der Fernsehturm war beleuchtet, zwei Kräne konnte man erkennen und ein Bürohaus, hoch und hell und weit hinter
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