Ausgerockt - [Roman]
und fuhr zurück auf die Autobahn. Früher hatte er wenigstens noch Protest-Verse von Holger bekommen oder mal eine geistreiche Mitteilung zum vermeintlichen Untergang des Abendlandes.
Alles, was er jetzt von ihm zu lesen bekam, war ein emotionsloser Dreizeilengruss.
Es war eine Nachricht, die offensichtlicher nicht verraten konnte, dass Holger gerne mehr erzählen würde, wenn doch bloß jemand nachfragen würde.
Linus brachte es nicht fertig, in Bremen eine der Abfahrten zu nehmen. Er fuhr auch an Delmenhorst und Oldenburg vorbei, fuhr Richtung Meer. Gegen Mittag erreichte er Wilhelmshaven.
Achtzigtausend Einwohner, eine Arbeitslosenquote von knapp fünfzehn Prozent, wechselnde Stadtväter, die fortlaufend danach strebten, das Tourismuspotenzial der Stadt zu nutzen, mehr daraus zu machen als einen traditionellen Marinestandort und die primäre Schiffsverbindungsstelle nach Helgoland.
Linus fuhr hinter einer langgezogenen Promenade entlang, die aus sterilen hellroten Ziegelsteinen erbaut war und wenig einladend aussah.
Er parkte den Wagen nahe dem Helgoland-Kai auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz, der sich gegenüber einer privaten Segelanlage befand.
Er bestieg die Deichtreppe. Er wusste nicht, was er erwartete, was er überhaupt noch erwartete vom Herumtreiben. Vom nicht zu Hause sein. Die Flucht hatte ihre scheinbar heilende Wirkung verloren.
Als er an die Kuppel des Deiches gelangte, bestätigte sich seine Ahnung. Es war ein hässlicher Ort.
Das Meer war dunkelgrau, vor dem Deichhang alter Rasen, kein Sand, glatte Fliesen, kein Naturstein, Eisenrohre, keine hölzernen Stege.
Linus zögerte auf der Spitze des Deiches, wollte umdrehen, doch die Vorstellung sich fortzubewegen, Auto zu fahren, konnte seine Stimmung nicht mehr bessern.
Er zog den Reißverschluss seiner Sommerjacke bis unters Kinn hoch, steckte die Hände in die Taschen und trottete die schmale Deichtreppe zum Meer hinab. Er setzte sich auf graue einbetonierte Fliesen.
Ein paar Meter von ihm entfernt spielten zwei junge Mütter mit ihren Kindern. Auf dem Deichrasen saßen vereinzelt Leute mit wetterfesten Jacken. Eine Gruppe Jugendlicher trotzte der Tristesse, indem sie sich mit einer Kiste Lemonbier um einen Ghettoblaster versammelten, der hawaiianische Klänge brummte.
Das Meer erschien Linus hier längst nicht so geschmeidig und beeindruckend, wie er es sonst empfunden hatte. Hier sah er darin bloß eine furchterregende graue Gewalt, die sich um nichts und niemanden scherte. Schon gar nicht um Menschen, die seine Nähe suchten, um ihm von ihren Problemen zu berichten. Menschen, die hofften, das Wasser würde einige ihrer Sorgen verschlucken.
Linus beobachtete die spielenden Kinder.
»Nicht so weit ans Wasser«, rief eine Mutter.
Nicht so weit ans Wasser, dachte Linus. Nicht so weit ins Wasser.
Er musste daran denken, wie empfindlich er früher an der Hüfte gewesen war. Er hatte immer zu hüpfen begonnen, wenn er so weit im Meer stand, dass kalte Wellen seine Hüfte umspülten.
»Nicht so weit ins Wasser.«
Nein, weiter wollte er auch gar nicht, weil es so kalt an der Haut war. Er ging wieder zurück, bis nur noch die Füße im Wasser standen. Er sah an sich hinab, auf die knochigen zitternden Knie und dann blickte er zurück und sah Hannah auf ihrem Handtuch sitzen und winken.
Er setzte sich in den Sand, drehte seinen Hintern hin und her, um einen festen Sitz zu erlangen. Er zeichnete Bahnen in die feuchte Oberfläche. Er legte den Kopf ganz schief, bis er das Gleichgewicht verlor und umkippte. Er kicherte leise, der Sand kratzte auf seiner Wange und er sog den feuchten warmen Geruch von Meerwasser und Sand ein. Er wünschte, sie würden irgendwann einmal nach Sylt ziehen. Es war der schönste Ort der Welt.
Er blickte nach rechts. Nur wenige Meter entfernt baute Mark eine Burg mit vielen Türmen von unterschiedlicher Größe und Gestalt. Immer wieder blieben Leute stehen und staunten und sagten »Toll!« und fragten: »Hast du die ganz alleine gebaut?«
Linus grinste. Ohne es zu merken, den Blick noch auf Mark gerichtet, fing er an, einen Burggraben auszuheben. Er häufte den Sand in der Mitte auf. Hannah rief, er solle sich nicht mehr so viel Mühe machen, sie würden gleich gehen. Und so beeilte er sich und formte mit den Händen seine Mauern und Türme und malte Verzierungen in die glattgestrichenen Oberflächen und baute ein Stück Holz und Cola-Dosen aus dem Mülleimer ein, und dann setzte er sich daneben und
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