Ausgesetzt
ist sie unglücklich. Sie sollte um einen Hungerlohn Nachtschicht machen. Dann ging’s ihr bestimmt bestens.«
»Genau«, stimmte er zu und grinste. Er drehte sich eine Zigarette. »Dir geht’s also bestens?«, fragte er sie.
»Haha. Wieder einer von deinen blöden Witzen?«
»Nein«, erwiderte er, und aus irgendeinem Grund hob sich seine Stimmung. »Ich wollte es nur wissen.«
Fünf Minuten später tauchte Kim Miller-Best auf. Das Haar hatte sie sich mit einem gewissen Sinn fürs Dramatische nach hinten gebürstet, und sie trug nun hellbraune Hosen und einen weiten, bunten Rollkragenpullover. Ein Hauch von Make-up hatte ein wenig Farbe in ihr sorgenvolles Gesicht gezaubert. Sie hatte sich sogar ein Paar goldene Ohrringe angesteckt. Walker fühlte sich geschmeichelt.
Sie führte sie in das sonnendurchflutete vordere Wohnzimmer. Rauhverputzte, cremefarbene Wände ragten etwa vier Meter in die Höhe und wurden betont durch großflächige abstrakte Gemälde in lebhaften Farben. Cremefarbene Möbel und Tische aus Glas und Schmiedeeisen waren an strategischen Punkten im Raum verteilt. Handgewebte Teppiche in gedämpften Farben lagen auf dem glänzenden Dielenboden.
»Was für ein schönes Zimmer«, sagte Krista, als sie sich auf ihren Krücken hereinschwang.
»Es kriegt viel Licht«, erwiderte Kim. »Setzt euch irgendwohin.«
Walker nahm Krista, die sich auf einem der Sofas niederließ, die Krücken ab. Er setzte sich neben sie.
»Wollt ihr was trinken?«, fragte Kim mit Hoffnung in der Stimme.
»Ich nicht«, sagte Krista.
»Ich auch nicht«, fiel Walker ein.
Kim nahm sich das Glas, das auf einem der Tische stand, und setzte sich.
»Ich normalerweise auch nicht, so früh. Aber das Haus fühlt sich so kalt an. Frost liegt in der Luft.« Sie nippte verstohlen an ihrem Glas.
Vielleicht deshalb, weil dir bei der Hintertür ein Hurrikan hereinbläst, dachte Walker. Doch laut sagte er: »Es ist wirklich sehr freundlich, dass Sie sich Zeit nehmen. Ich habe eine Menge Fragen.«
Kim sah ihn ein wenig überrascht an. »Ich dachte, ich hätte die Fragen«, sagte sie. »Ich möchte alles über Lennie wissen. Ich weiß nur, dass sie schon ewig in England wohnt, und meine Mutter hat mir erzählt, dass du in New Brunswick zur Schule gegangen bist. Mehr weiß ich nicht.«
Walker spürte Kristas Blick auf sich.
»Dieses riesige Haus in Forest Hill«, fragte Krista, »hat Lennie dort mit ihrer Familie gewohnt?«
»Aber ja«, antwortete Krista. Sie sah wieder zu Walker. »Du warst bei deinem Großvater, nicht?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ich war gar nicht sicher, wo ich war«, erwiderte Walker. »Ich habe ihn nie gesehen. Wusste nicht, wo er wohnte. Bis vor ein paar Tagen wusste ich nicht einmal, dass ich einen Großvater habe.«
»Lennie hat dir nicht von ihm erzählt?«, fragte Kim.
Walker zögerte einen Augenblick. »Das Problem ist«, sagte er dann, »dass ich auch Lennie nicht kenne. Ich meine, ich kann mich kaum an sie erinnern.«
Kim sagte nichts mehr. Sie saß nur da und blickte ihn unverwandt an, ihr Glas in der Luft.
Walker kämpfte sich weiter. »Erinnern Sie sich an einen Brief, den Sie meiner Mutter geschickt haben? Sie haben ihn am 15. September 1979 geschrieben. Es ging darum, dass Lennie, mein Vater und ich nach Toronto fliegen sollten.«
»Aber ihr seid nie angekommen, Walker«, sagte Kim. »Tagelang habe ich auf einen Anruf gewartet. Bin kaum aus dem Haus gegangen. Ich habe sogar ein Telegramm geschickt. Ich habe nie wieder was von Lennie gehört.«
»Würden Sie mir vielleicht verraten, was das Geheimnis war? In Ihrem Brief stand, dass sie es fertiggebracht haben, irgendein Geheimnis zwischen Ihnen beiden mehr als drei Jahre lang für sich zu behalten.«
»Dass Lennie schwanger war, natürlich«, antwortete Kim.
»Natürlich«, wiederholte Walker.
Wieder fühlte er Kristas Blick auf sich ruhen.
»Wohin haben Sie das Telegramm geschickt? Damals, als Lennie nicht kam?«, fragte Krista.
»Nach Jamaika«, sagte Kim, und dann: »Was soll das heißen, du kennst deine Mutter nicht?« Sie saß nun auf der Sesselkante, das Glas in ihrer Hand hatte sie völlig vergessen. »Was meinst du damit?«
Walker erzählte Kim seine Geschichte, zumindest das, was er wusste. Er kehrte zurück in die Vergangenheit, fing mit der für ihre Mutter erfundenen Schulzeit in New Brunswick an, berichtete über seine Ankunft in Toronto im August, seine Jugend in Big River, und die Jahre davor bei Pflegefamilien in
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