Ausgesetzt
gehen. Lennie rief mich an. Ihr Vater wäre einverstanden, sie könnte eine Weile nach Jamaika gehen, und sie würden überall herumerzählen, dass sie auf eine ganz noble Schule da unten gehen würde. Und ihr Freund sollte natürlich mitkommen. So war es abgemacht. Sonst würde Lennie nicht gehen. Sie würde das Baby in Jamaika bekommen, ihre Mutter würde sich um sie kümmern, und nach einem Jahr, wenn sie und ihr Freund sich noch immer liebten, dürften sie heiraten. Jake hat sich schließlich mit diesem Arrangement abgefunden, weil es keine Alternative gab und Lennies Schwangerschaft sich bald nicht mehr verheimlichen ließ. Aber nur unter einer Bedingung: Sie durfte ihren Freunden nicht schreiben oder sie sonstwie kontaktieren. Sie musste sich zu absoluter Diskretion verpflichten. Das tat sie, und dann hat sie natürlich mich angerufen. Ich musste Stillschweigen geloben.«
»Dann ist es ja kein Wunder, dass niemand wusste, wer du bist oder wo du herkommst«, sagte Krista zu Walker.
»Ich bin Jamaikaner«, sagte Walker und sah ein wenig fassungslos drein.
»Und du warst ganz schön weit weg von zu Haus, als du ausgesetzt wurdest«, ergänzte Kim.
»Haben Sie ihre Briefe noch?«, fragte Walker.
»Ich habe gründlich ausgemistet, bevor ich auf die Uni ging«, erwiderte Kim. »Anfangs habe ich nur ein bisschen was weggeschmissen, aber dann habe ich gar nicht mehr aufgehört. Ich weiß auch nicht, warum. Der Anfang eines neuen Lebensabschnitts und das Ende eines anderen, nehme ich an. Oder vielleicht hatte ich auch einen Nervenzusammenbruch. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
Kim sah an Walker vorbei zum Fenster. Es schien, als wäre sie in Gedanken in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. »Na ja, ich habe geheiratet, Kinder gekriegt, ein bisschen unterrichtet. Ich meine, das ist großartig, ein herrliches Leben, aber manchmal …« Sie sah in ihr Glas, doch es war leer.
»Irgendwie habe ich in letzter Zeit immer öfter an Lennie gedacht«, sagte sie. »Aber ich bin davon ausgegangen, dass Jake mir die Wahrheit gesagt hat. Oder jedenfalls eine Halbwahrheit. Dass ihr drei nach England gegangen seid. Dass sie wirklich ein neues Leben beginnen wollte, mit neuen Freunden. Das habe ich all die Jahre geglaubt!«
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Hat sie was über mich geschrieben?«, fragte Walker.
»Ja, natürlich! Selbstverständlich. Alles über dich! Alles über deinen Vater! Sie war total vernarrt in euch beide. Kyle und Little Kyle.«
»Was?«, fragte Walker.
»So hat sie dich genannt. Daran erinnere ich mich. Dein Vater war Kyle, und du warst Little Kyle.«
»Nicht Walker?«, fragte Krista.
»Na ja, ich weiß nicht. Ich war ganz überrascht, als meine Mutter sagte, dass du Walker heißt. Wahrscheinlich hatte ich es vergessen. Bestimmt hat sie mir deinen richtigen Namen gesagt. Ganz bestimmt. Aber ich kann mich nur noch an Little Kyle erinnern, das klang so süß, weißt du. Und sie sagte, dein Vater sähe blendend aus. Er war Künstler, schrieb seine eigenen Lieder und spielte Gitarre. Aber, Walker, was deinen Großvater wirklich umgehauen hat, war, dass dein Vater ein halber Indianer war.«
»Ein halber Indianer?«, fragte Walker.
»Irgendwo aus dem Westen. Ich weiß noch, wie Lennie sagte, dass er von zu Hause weggelaufen ist, als er noch ein Kind war, und seither ganz auf sich selbst gestellt war. Als sie nach Jamaika kamen, hat er als Schiffsjunge angeheuert. Du weißt schon, bei einer dieser Firmen, die Yachten vermieten, samt Mannschaft, Koch und allem Drum und Dran. Das hat ihm Spaß gemacht. Er sei der geborene Matrose, sagte deine Mutter, aber sie machte sich Sorgen wegen der Stürme. Sie hat immer über Stürme geschrieben und dass Kyle auf See sei, das weiß ich noch. Und ich weiß noch, als du geboren wurdest. Ja, das weiß ich auch noch. Und sie war meine beste Freundin, und irgendwas ist ihr zugestoßen! Und man hat dich an einer Straße ausgesetzt, und ich wusste nicht, dass etwas nicht stimmt, und ich habe nichts unternommen!« Ein neuer Tränenstrom lief ihr die Wangen hinunter. Sie versuchte, ihn mit ihren Handrücken aufzuhalten.
»Wir haben immer alles gemeinsam gemacht«, fuhr sie fort. »Einmal war ich sehr krank und musste mir die Mandeln rausnehmen lassen, dann habe ich mir irgendeine Infektion eingefangen und musste ewig im Bett bleiben. Und sie ist jeden Tag mit den Schulaufgaben herübergekommen und hat mir geholfen. Und als sie
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