Ausgesetzt
Sudbury. Als er davon erzählte, dass er an einer Straße ausgesetzt worden war, schlug Kim die Hand vor den Mund, und Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Als er sagte, dass man ihn ein paar Kilometer südlich des French River gefunden hatte, verschüttete sie ihren Drink. Ein paar Tropfen zumindest.
»Die Nuremborskis hatten ein Ferienhaus am French River«, sagte sie. »Na ja, eigentlich war’s schon ein richtiges Haus. Ich war oft da oben. Ein Jahr verbrachte Lennie den Sommer bei uns im Ferienhaus, das nächste Jahr ich bei ihr.«
Kim sah sich im Zimmer um, als erwarte sie, dass Lennie jeden Moment auftauchen könne. »Was zum Teufel ist denn passiert?«, flüsterte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Walker.
»Ich hätte darauf bestehen sollen«, schluchzte Kim. »Ich hätte Jake sagen sollen, dass ich Lennie sehen will. Ich hätte mich nicht mit dem Scheiß abspeisen lassen sollen, mit dem er mir gekommen ist. Ich hab gewusst, dass da was nicht stimmt!«
»Was hat er denn gesagt?«, fragte Walker.
»Dass Lennie in Jamaika jemand kennengelernt und sich verliebt hat. Angeblich war sie dort, um auf eine Privatschule zu gehen, aber in Wirklichkeit war sie da, weil sie schwanger war. Ich sollte das nicht wissen. Jake wusste nicht, dass ich es wusste. Das war das Geheimnis zwischen Lennie und mir. Jake sagte, dass Lennie und ihr Freund nach England fliegen würden, wo ihr Verlobter herkomme, um dort zu heiraten. Er sagte, Lennie würde sich bei mir melden, wenn sie das wollte, aber dass er ihre Adresse nicht verraten dürfe. Lennie solle entscheiden, mit wem von ihren Freunden sie in Kontakt bleiben wolle. Und ich konnte ihm nicht einmal sagen, was ich wusste, weil ich’s ja versprochen hatte! Ich konnte ihm nicht sagen, dass Lennie mir geschrieben hatte und gesagt hatte, dass sie nach Toronto zurückfliegen würde. Ich durfte ja offiziell nichts von dir oder deinem Vater wissen. Gar nichts durfte ich wissen!«
Kim stürzte den Rest in ihrem Glas hinunter. »Ich bin noch einmal zu Jake gegangen und habe ihn gefragt, ob er von ihr gehört hätte, ob ich, bitte schön, ihre neue Adresse in England haben könnte. Und er sagte, natürlich hätte er von ihr gehört. Sie wäre glücklich und wollte ein neues Leben beginnen. Er hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.«
Nun saß Walker auf der Sofakante. »Was hatte sie Ihnen über meinen Vater und mich erzählt?«, wollte er wissen.
»Alles. In jenem Sommer bin ich nicht zu Lennie raufgefahren, weil ich meinen ersten Ferienjob bekommen hatte. Aber sie hat mich einmal spät abends angerufen. Sie sagte, sie hätte diesen Jungen kennengelernt, er arbeite in dem neuen Yachthafen. Ich glaube, er war siebzehn. Sie war erst vierzehn, weißt du?«
»Ich weiß«, sagte Walker.
»Also, auf jeden Fall war sie schwanger und ganz vernarrt in ihn, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ich auch nicht. Das Ganze war total irre. Und so haben wir einfach nur miteinander geredet, spät in der Nacht. Geredet und geredet. Eines Nachts sagte sie, sie hätte ihrer Mutter gesagt, dass sie schwanger sei. Und ihre Mutter hätte es ihrem Vater gesagt. Dann gab’s ein Riesenpalaver mit allen Beteiligten. Jake ist ausgeflippt. Kann man sich leicht vorstellen. Er wollte ihren Freund einsperren lassen. Wollte, dass sie abtreibt. Aber da hat er auf Granit gebissen. Wenn Lennie sich was in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sich den Mund fusselig reden. Außerdem liebten sie sich wirklich, sie und dein Vater, das hat sie mir erzählt. Und sie wollten miteinander leben. Sie wollten heiraten. Da flippte Jake noch mehr aus. Lennie dachte, sie muss von zu Hause abhauen. Tagelang ging das so. Lennie hat mich jede Nacht angerufen, lauter R-Gespräche, das ganze Geld von meinem Ferienjob habe ich direkt meinem Vater weitergegeben, um die Ferngespräche zu bezahlen. Aber das war mir egal, sie war meine beste Freundin. Dann hatte Lennies Mutter eine Idee. Sie hat Jake auch dazu gebracht, dass er die akzeptiert. Sie hatten ein Haus auf Jamaika. Auf irgendeiner Insel vor der Südküste. Lennies Mutter war gern dort unten, jeden Winter hat sie dort verbracht. Lennie hat sie zu Weihnachten und zu Ostern immer dort besucht. Ich glaube nicht, dass Mrs. Nuremborski besonders glücklich war mit Jake. Wer wäre das schon gewesen? Er war ein Tyrann und immer so von oben herab. Und irgendwie unheimlich. Na ja, und da bot sich für Mrs. Nuremborski die Chance, ihm noch länger aus dem Weg zu
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