Ausgesetzt
Musik kam. Die grünen Ziffern leuchteten ihm aus einem alten Kiefernschrank entgegen. Er ging darauf zu. Ein Schrei erfüllte das Zimmer.
Kim Miller-Best kniete auf dem Sofa und hielt sich den Morgenmantel fest vor dem Körper zu. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.
»Hi«, sagte Walker.
»Wer zum Teufel sind Sie?« Ihre Stimme klang belegt, und offensichtlich hatte sie Schwierigkeiten, ihn klar zu erkennen.
»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Ich bin Walker. Der Sohn Ihrer Freundin Lennie Nuremborski, verstehen Sie?«
Sie starrte ihn immer noch an.
»Ich habe vorn geklingelt, dann bin ich nach hinten gegangen«, fuhr er fort. »Können wir das vielleicht ein bisschen leiser machen?« Hoffnungsvoll deutete er mit dem Kopf zur Stereoanlage.
Kim musterte ihn von oben bis unten, als ob ihr Stück für Stück dämmerte, wer da vor ihr stand. Walker. Lennies Sohn. Ihr Mund klappte leicht auf. Sie fuhr sich mit dem Handrücken darüber.
»Wirklich?«
»Mhm«, erwiderte Walker.
Sie erhob sich und stand, durch das Sofa gestützt, einen Augenblick nur da und lächelte ihn zaghaft an.
»Ich habe geschlafen wie eine Tote.«
»Tut mir wirklich leid«, sagte Walker. »Ich hätte nicht einfach so reinplatzen dürfen.«
Er roch das süßliche Aroma von Alkohol in ihrem Atem, obwohl er drei Meter weit weg stand.
Kim nickte, quetschte sich das Gesicht, als wolle sie sich dadurch aufwecken, ging auf wackeligen Beinen zur Stereoanlage und schaltete sie ab.
Absolute Stille.
»Sie sind Kim?«, fragte Walker.
»Ich glaube schon«, antwortete sie und ging zurück zum Sofa. Sie bückte sich und hob, mit dem Rücken zu Walker, etwas vom Boden auf. Er erhaschte einen Blick auf ein Glas und eine halbleere Flasche.
»Hier sieht’s ziemlich übel aus, wir hatten gestern abend Gäste«, sagte sie über die Schulter, während sie auf eine Bar in der Ecke zuging, sich bückte und mit leeren Händen wieder hochkam. »Ich war nicht auf Besuch eingestellt.«
Sie lächelte. Sie war hübsch, wenn auch angespannt und verhärmt. Sie taumelte leicht.
»Geht’s Ihnen gut?«
»Aber klar«, sagte sie und fing sich wieder. »Ich habe tief und fest geschlafen und bin einfach zu schnell aufgestanden, mir ist schwindlig.« Vorsichtig steuerte sie um die Bar herum und setzte sich in einen Sessel.
»Mein Gott, Lennies Sohn!«, stieß sie plötzlich hervor. »Ich habe sie eine Ewigkeit nicht gesehen, nichts von ihr oder über sie gehört, überhaupt nichts!«
»Hat Ihre Mutter Sie angerufen? Ich war kurz bei ihr.«
»Ja, hat sie. Meine Güte, Walker, wie alt bist du?«
»Neunzehn.«
»Das habe ich mir gedacht. Ich habe drei Kinder, sechs, acht und zehn. Zwei Jungs und ein Mädchen. Kaum zu glauben, was?«
»Mhm. Ist aber schön. Mm, übrigens wartet draußen im Auto eine Freundin auf mich. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich sie hereinhole? Ich weiß, ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich hatte … ich wollte Sie unbedingt sehen!« Zum ersten Mal zeigte Walker etwas von seinen Gefühlen.
Kims Züge wurden sofort weicher. Sie war hübsch. Plötzlich war Walker stolz darauf, dass diese Frau die beste Freundin seiner Mutter gewesen war.
»Ich wollte dich auch sehen. Nein, wie du aussiehst. Du bist so dunkel und alles. Lennie war auch dunkel, aber nicht so wie du. Aber ich erkenne sie wieder in dir, wirklich. Wie du den Kopf hältst. Da ist was. Sie hat mir so gefehlt. Sie fehlt mir noch immer! Und ich sehne mich nach damals!« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Hol deine Freundin doch herein. Und gib mir fünf Minuten, damit ich mich renovieren kann, Walker.«
Walker ging wieder ums Haus herum und rannte die Treppe zum Auto hinauf. Krista saß da, wo er sie zurückgelassen hatte.
»Ich wollte gerade hupen. Oder vielleicht wegfahren«, sagte sie, als er zu ihr in den Wagen stieg.
»Sie ist da«, erzählte er. »Sie hat gesagt, wir sollen reinkommen. Wir sollen nur ein paar Minuten warten, damit sie sich anziehen kann.«
»Es ist fast Mittag.«
»Ich glaube, sie ist sehr nett«, fuhr Walker fort. »Wir haben uns schon ein bisschen unterhalten. Nichts Besonderes. Sie hat gesagt, wie sehr ihr meine Mutter fehlt und so. Sie ist blau.«
»Was ist sie?«
»Blau … ein bisschen.«
»Lieber Himmel, blau ist sie?«
»Nur ein bisschen.«
»Von was?«
»Sie hatte was in einer Flasche. Wodka vielleicht.«
»Das paßt«, meinte Krista und musterte noch einmal das Haus. »Zuviel Geld, deswegen
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