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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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sich das Bein brach, habe ich ihr wochenlang die Schulsachen getragen.«
    Kim verfiel zusehends. Ihre Hände tropften. Krista kramte ein Taschentuch aus ihrer kleinen ledernen Umhängetasche, reichte es Walker, und der gab es Kim.
    »Ich hab irgendwo welche«, sagte Kim, sah sich hilflos um und drückte sich das Taschentuch auf die Augen.
    »Was ist mit meiner Großmutter?«, fragte Walker. »Lennies Mutter? Haben Sie nicht mit ihr gesprochen?«
    Kim sah zu ihm hoch. Ihre Augen waren rot und verschwollen. »Sie ist gestorben, Walker. Ungefähr um die Zeit, als du geboren wurdest.«
    »Was, glauben Sie, ist mit meiner Mutter und meinem Vater passiert?«, fragte er und hockte sich neben sie.
    Sie berührte sein Gesicht. Ihre Finger fühlten sich nass und kalt an. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht«, erwiderte sie. »Aber Lennie würde ihr Kind nie im Stich lassen!«
    »Ich weiß«, pflichtete ihr Walker bei. »Das würde sie bestimmt nicht tun. Aber ich kann ja nicht mal beweisen, dass ich ihr Sohn bin. Wenn ich mit leeren Händen zur Polizei gehe, halten die mich für einen Spinner.«
    »Du hast ja meinen Brief.«
    Walker und Krista sahen sich an.
    »Der wurde mir gestohlen«, sagte Walker. »Ich habe gar nichts.«
    »Ach so«, sagte Kim. »Ja, aber du siehst ihr ähnlich …« Und dann, noch einmal seine Partei ergreifend, erklärte sie: »Ich weiß, dass du ihr Sohn bist, weil du meinen Brief beschrieben hast.«
    Krista und Walker gingen zurück zu Nicks Wagen.
    Walker war wie betäubt. Es sah aus, als führe die Sonne einen verrückten Tanz am hohen blauen Himmel auf. Krista war vor ihm am Wagen und öffnete die Beifahrertür.
    »Oh, mein Gott!«, schrie sie und taumelte einen Schritt zurück.
    Eine Katze lag auf dem Beifahrersitz in der Sonne. Ein ganzes Netz alter Narben spannte sich über ihre Nase und ihren Kopf. Sie war schwarz-weiß.
    Walker streckte die Hand aus und betastete die Katze unten am Hals. Sie fühlte sich kühl an.
    Walker sah, dass ihre Augen nur einen kleinen Schlitz weit geöffnet waren und ein bläulicher Film zwischen den Lidern schimmerte.
    »Kerouac«, sagte Krista.

[home]
    14
    1974
    B obby marschierte im flimmernden Wechselspiel von Sonnenlicht und Schatten den Weg hinunter. Es war nach Mittag. Seine Mutter hatte ihm gerade eine Suppe und ein Omelett mit allerlei seltsamem Grünzeug drin gemacht. Zwiebeln und Spinat und Kräuter und solches Zeug. Das war angeblich gesund. Sie erzählte ihm ständig, dass er jetzt bald in die Höhe schießen würde. Eines Tages würde er aufwachen und seine Beine wären fünfzehn Zentimeter länger. Seine Hände würden auf einmal wie Baseballhandschuhe aussehen. Er würde sich rasieren müssen. Bobby war eigentlich immer so groß wie die anderen Jungen seines Alters gewesen. Jetzt, mit fünfzehn, hatten die anderen ihn überholt.
    Im vergangenen Jahr hatte er eine Schule besucht, an der jedem Schüler, in einer Klasse mit nur vier oder fünf Mitschülern, all die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die er brauchte, das stand zumindest im Prospekt der Schule. Auf einem Schild über der Eingangstür verkündete die Schule sogar ganz optimistisch: Jeder Schüler ist ein besonderer Schüler.
    Und Bobby hatte auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Er wusste, dass er große Dinge in seinem Leben tun würde. Er würde vor großem Publikum sprechen, und die Leute würden ihm zujubeln und die Hände entgegenstrecken. Sie würden ihn uneingeschränkt und vorbehaltlos lieben. Manchmal schloss er die Augen, und da konnte er sie jubeln hören. Es klang wie atmosphärische Störungen im Radio, wie ein Brüllen, wie ein langgezogener Ton der Panik und der Lust.
    Wie außergewöhnlich er war und wie bedeutend er sein würde, hielt er vor allen geheim. Er lächelte bei dem Gedanken, dass niemand es wusste. Nicht einmal sein Vater. Das würde vielleicht eine Überraschung für ihn werden. Wie stolz würde er sein, und wie leid würde es ihm tun. Er würde Bobby in die Arme schließen und zärtlich halten, er würde ihn um Verzeihung bitten. Und Bobby würde ihm vergeben.
    Doch im Moment war sein Vater blind wie eh und je für den Ruhm, den die Zukunft bringen würde. Er lag quer auf dem Heck der
Chestnut Alley
, der Kopf unsichtbar, versteckt in der Luke, durch die man den Innenbordmotor erreichte. Er bastelte herum. Bobby hörte das
klink, klink, klink
eines Schraubenschlüssels oder eines Hammers, der behutsam auf den Motor schlug.
    Bobby verließ den Weg und stieg

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