Ausgesetzt
sie würden zurückkehren. Kiss war überzeugt, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.
Und zweitens hatte er hier überhaupt nichts verloren, dachte er, als er den Weg halb hinunterrannte, halb schlitterte und sich dabei die Schuhe komplett zerkratzte. Er war bei der Mordkommission. Nach dem, was einer seiner Leute ihm am Telefon gesagt hatte, noch bevor er Zeit gehabt hatte, seinen Mantel im Büro aufzuhängen, sah es ihm nicht nach Mord aus. Aber das war auch scheißegal. Denn Staff Inspector Hicks stand unter großem Druck von oberster Stelle, überall zu ermitteln, wo etwas das Zeitliche gesegnet hatte. Das war einmal die Aufgabe des Coroner gewesen. War es noch. Aber irgendein Spaßvogel hatte beschlossen, jeder Todesfall außerhalb eines Krankenhausbettes sollte zunächst einmal als Verbrechen behandelt werden.
Als ob er sonst nichts zu tun hätte. Als ob er nicht jede Menge Fälle hätte, für deren Aufklärung er niemals genügend Zeit und Personal haben würde. Das einzige, worum es ging, war Politik, es ging um den Schein, darum, den eigenen Arsch zu retten, auf »Freund und Helfer« zu machen oder sonst so einen Krampf. Man sollte sehen, dass etwas getan wird, dass man sich kümmerte, auch wenn einem alles am Arsch vorbeiging.
Kiss war unten angekommen. Er fühlte sich besser. Vor Wut kochen war der einzige Sport, den er trieb. Er war einssiebzig groß und wog genau dreiundsechzig Kilo. Kochen hielt ihn dünn.
Detective Constable Amos Alberni begrüßte ihn. »Tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, Sergeant, aber ich habe mir gedacht, Sie sollten sich das ansehen.«
Alberni kam frisch von der Universität und kannte sich nach Kiss’ Einschätzung im Großstadtdschungel ungefähr so gut aus wie ein Feldhase.
Der Inspektor machte sich nicht die Mühe zu antworten. Warum auch? Seine Tage waren gezählt, der Junge da würde ihn um hundert Jahre überleben.
Die beiden gingen auf eine Gruppe von Männern zu, darunter auch ein paar Uniformierte. Die in den Anzügen kannte Kiss alle, auch den Coroner.
Er hörte das Brummen des Morgenverkehrs auf der Brücke über seinem Kopf. Nach Norden und Süden erstreckte sich eine bewaldete Schlucht, in beiden Richtungen von staubigen Pfaden durchzogen. Doch es war nicht gerade der ideale Ort für eine Wanderung im Grünen. Sie waren mitten in der Stadt, Sozialwohnungen auf der einen Seite und das alte Gefängnis auf der anderen.
Im Wald, da sind die Räuber, ging es Kiss durch den Sinn.
Ein Mann hing an einem Strick. Es war ein dicker Mann, deshalb hatte er einen dicken Strick genommen. Eine umgestoßene Holzsteige lag zu seinen noch immer in der Luft baumelnden Füßen. Er hatte sie hochkant hingestellt, war darauf gestiegen, hatte zu einem Brückenträger hochgelangt, einen festen Knoten um eine Eisenstange gezogen, am anderen Ende einen Schlüpfknoten gebunden, sich die Schlinge über den Kopf gelegt und die Steige weggestoßen. Fall abgeschlossen.
Die Hände des Mannes waren weder gefesselt noch sonst irgendwie festgehalten. Sie sahen weich und sauber aus. Kein Klebeband bedeckte seinen Mund, kein Knebel steckte darin. Der Mund war in einer Grimasse festgefroren, als ob der Mann versucht habe, mit den Zähnen einen besonders widerspenstigen Korken aus einer Weinflasche zu ziehen. Das Gesicht wies keine Spuren eines Kampfes auf, keine Schnitte, keine Blutergüsse. Es war ausdruckslos und sehr grau. Nur die Knollennase hatte sich ein wenig Farbe bewahrt, als stecke noch Leben in ihr.
Es gab keinen Anhaltspunkt für einen Unfalltod. Es sei denn, man bezeichnete die Lebensumstände des Mannes, die ihn zu so einer einsamen und verzweifelten Tat getrieben hatten, als Unfall. Absolut nichts Außergewöhnliches. Nur einer von den vielen Selbstmorden, die in großen Städten, in kleinen Städten und sogar auf dem Land vorkamen.
Nur dass der Mann nackt war.
Wie ein großes, weißes Stück Fleisch hing er da, zum Räuchern an der Luft, zum Räuchern in Licht und Schatten.
Der weiße Bauch war riesig und aufgetrieben. Die Beine waren überraschend dünn, die Knie waren knochig und erregten einen bei Kiss seltenen Anflug von Mitleid. Es waren die Knie eines alten Mannes, wie seine eigenen. Sie schlugen sich ihm aufs Gemüt.
Kiss bemerkte Uringeruch. Die Genitalien des Mannes sahen noch feucht aus. Eine dünne Kotspur war ihm das halbe linke Bein hinabgelaufen.
»Sie haben ihn ausgezogen«, sagte Kiss, ohne sich an jemand Bestimmtes zu wenden und ohne dabei
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