Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Lagebesprechung über das Klima bedeutet wohl die umfassendste Form der Theatralisierung des Unsichtbaren, die in der Geschichte der Menschheit bisher aufgetreten ist. Bezeichnenderweise haben die Wetternachrichten fast überall, wo man fernsieht, die besten Einschaltquoten. Trotz ihrer garantierten Banalität sind sie die einzige durchschlagend erfolgreiche Sendung. Man muß aus dieser Tatsache Konsequenzen ziehen. Die Gegenwartskultur hat es so weit gebracht, daß man die aktuellen klimatischen Umstände als Politikum erkennt. Wer jetzt vom Wetter redet, redet über das aktuell Allgemeine. Da wissen alle, nostra res agitur. Wird über eine Kanzlerrede oder ein Zugunglück berichtet, geht das Gespräch bei Tisch sorglos weiter. Kommen die Wetternachrichten, herrscht Schweigen, man hört und sieht zu, jetzt geht es um die Wahrheit der Lage. Der eigene Blick zum Himmel genügt nicht mehr. Man möchte es offiziell bestätigt haben, bevor man glaubt, was man mit eigenen Augen wahrnimmt. Man will das Wolkensystem, das uns bedrückt, von oben sehen. In uns sitzt neuerdings ein Stratege, der die Großwetterlage beurteilt. Da ist ein neuer Anschauungsanspruch herangewachsen. Ich halte ihn für folgenreich und interpretiere ihn als Symptom einer umfassenden Atmosphärendämmerung. Alles spricht dafür, daß das Zeitalter des Reduktionismus ausklingt. Der ikonische Primitivismus erledigt sich jetzt von selbst. Bilder sind inzwischen omnipräsent, aber ihre aufsässige Gegenwartbedeutet nicht automatisch Diktatur. Daß die Bilder heute viel weniger herrschaftlich sind als früher, hat vor allem zwei Gründe – zum einen gibt es eine breite Gewaltenteilung im Bilderraum, die verhindert, daß einzelne Ikonen an die Macht kommen, zum anderen macht sich das Gesetz des Komplexität auch bei den Bildern zunehmend geltend. Mit den herkömmlichen starken Vereinfachungen kommt man nicht mehr weiter.
Roth: Ich sehe die Sphärendämmerung doch mehr auf der Bildproduktionsseite. Ich denke, daß wir es bei der Imachination insgeheim mit einem bildpolitischen Wandel zu tun haben. Angesichts der komplexen Bildherstellungsverfahren kann heute keiner mehr beanspruchen, daß er alleine diesen technischen Herstellungsprozeß überblickt und die Konsequenzen in diesem höchst arbeitsteiligen Prozeß überschauen kann. Die Frage ist also folgende: Ist nicht vielmehr Bildherstellung zu einem kommunikativen Akt geworden, bei dem über eine Bildverarbeitungskette vom Mathematiker bis hin zur Postproduktion gemeinsam an Bildern gearbeitet wird – Kommunikation also als technische Communio in der Maschine?
Sloterdijk: Das ist sicher so. Ich meine aber, man sollte die Frage nach der kollektiven Fabrikation von Bildern jetzt nicht mehr so stellen, wie man sie noch um 1960 oder 1970 gestellt hat, als die Denkform des Verdachts noch einmal richtig hochgekocht ist. Ich gebe zu, ich kann immer weniger anfangen mit dem damals dominierenden neomarxistischen Habitus einer methodischen Paranoia, die so leicht in die existentielle Paranoia übergeht. Die herkömmliche Logik des Argwohns, diese Erblast der mißglückten Französischen Revolution, ist heute überholt, insbesondere dadurch, daß gerade der von Ihnen betonte arbeitsteilige Prozeß Eigengesetzlichkeiten besitzt, über die auch ein böser Herr nicht verfügen könnte. Die Römer kannten die Wendung: Caesar non super grammaticos – der Kaiser mag über alles herrschen, nicht über die Grammatikregeln. Bei den Regeln für die Erzeugung von Bildern ist das nicht ganz so eindeutig – aber in der Tendenz gilt das gleiche. Esgibt natürlich medienpolitisch beachtliche, zum Teil gefährliche Machtzusammenballungen. Trotzdem ist nicht zu verkennen, daß auch ein Medienzar die Syntax und Orthographie der Bildersprache nicht willkürlich verändern kann. Die Bilderwelt insgesamt bleibt ein polyzentrisches Feld, das sich nicht von einem einzigen Zentrum aus handhaben läßt. Die Figur des böswilligen Herren ist da mehr ein Phantasma als eine bestätigbare Erfahrung.
Roth: Meine Fragestellung ging eigentlich in eine andere Richtung. Vilém Flusser hat behauptet, daß heute nicht mehr die Politiker regieren, sondern die Informatiker, die die Programme schreiben. Ich gebe mich mit dieser Behauptung nicht zufrieden, weil das voraussetzen würde, daß derjenige, der programmiert, den ganzen Prozeß überschaut. Ich denke eher, das Selbstverständnis des Bildproduzenten hat sich gewandelt. Wenn Peter Galison
Weitere Kostenlose Bücher