Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
für den Transport der WAHRHEIT geeignet. Das alles ändert sich in dem Moment, in dem man in den monitorialen Raum übergeht. Jeder durchschnittliche Computer bietet heute ein Schrifttypenprogramm, so breit, daß der Verfasser es zeit seines Lebens nichtausschöpfen wird. Dadurch verwandelt sich der Autor in einen Graphikdesigner, der sein eigenes skriptuales Erscheinungsbild hervorbringen muß. Die Schrift selbst wird Medium von Mode und damit zur Entscheidungssache ihres Benutzers. Wir benutzen jetzt nicht mehr nur die alteuropäische, elegant gemachte Monumentalschrift zur Darstellung der Wahrheit. Durch die Vorgaben der neuen Technik sind wir zu einer neuen Art von Freiheit verdammt. Freiheit des Autors heißt heute Graphikdesign in eigener Sache. In demselben monitorialen Raum verändert sich auch das Verhältnis von Text und Fußnote, von Text und Zitat, von Text und Bild. Die Art und Weise, wie ich die Bilder in den Text einbaue, bringt zum Ausdruck, daß ich bereits in diesem elektronischen, weißen Kubus arbeite, der als flacher Bildschirm vor mir steht. Daher ist die Komposition von Sphären eher mit einer Installation zu vergleichen. Die Bilder stehen in in dem Buch wie Schaustücke in einer Installation. Weil sie gegenüber dem Text in der Regel etwas verrückt sind, geht von ihnen eine leichte Trance-induzierende Wirkung aus. Sie sprechen das Gehirn des Lesers auf einer anderen Wellenlänge an als der Text.
Roth: Was das Monitoriale anbelangt, so sind mir auf der bildlichen Ebene in ihrem ersten Band Blasen gleich das zweite und dritte Bild aufgefallen. Diese Aufnahmen von der Sonnenoberfläche bzw. einer Galaxie der astronomischen Forschungssatelliten SOHO und Hubble bilden ein mediales Kontrastprogramm zu den anderen Abbildungen. Sehen Sie einen Unterschied zwischen diesen digitalen Aufnahmen und den anderen eher klassischen Bildbeispielen wie Zeichnungen, Gemälden, Photographien oder Aufnahmen von archäologischen Objekten?
Sloterdijk: Sogar einen sehr großen, obschon das Auge diesen Unterschied zunächst nicht machen kann. Der hermeneutische Apparat jedoch, der mit dem Auge verbunden ist, stellt den Unterschied ohne Mühe fest. Denn, wie ich vorhin andeuten wollte, machen die Bilder als Bilder nur eine Teilmenge in der Geschichte und Menge des Sichtbaren aus. Das Sichtbare –das Reich der Anblicke – ist für sich genommen ein unermeßliches Reservoir, das als Überraschungsraum für Seh-Akte strukturiert ist. Was auch immer ich als visuelles Wesen tue, ich navigiere in diesem Raum. Nehmen wir an, ich bin ein Urmensch und blicke an den Horizont: Eben war der Leopard noch nicht da, doch dann steht er vor mir: seine Gegenwart verwandelt den Sinn meiner Situation. Ich bin wohl von Natur aus so organisiert, daß mir die Anwesenheit des Leoparden nicht gleichgültig sein kann. Mein existentieller Streß beweist mir das unmißverständlich. Die Leopardenpräsenz bedeutet für mich das Sichtbarwerden eines vorher Unsichtbaren. Worauf es ankommt, ist, daß im aktuellen Fall die neue Sichtbarkeit etwas ist, das sich von sich her zeigt und mich zum Reagieren drängt. Der Anblick des präsenten Leoparden bedeutet Alarm. Sähe ich hingegen nur sein Bild, würde das die Entwarnung signalisieren – es würde mir sogar suggerieren, der Leopard sei durch mich selbst manipulierbar. Die Sehverhältnisse der Moderne sind völlig anders strukturiert als in einer Welt, in der Leoparden am Lager auftauchen. Sie hängen in erster Linie von einem Großereignis namens Forschung ab. Was das bedeutet, hat vor allem der spätere Heidegger deutlich gemacht. Forschung ist eine Maßnahme zur organisierten Wegarbeitung des Verborgenen – was ja nichts anderes besagt, als daß Dinge, die bisher nicht in der Sichtbarkeit lagen, zur Sichtbarkeit befördert werden, und dies mehr oder weniger gewaltsam. Künstler und Naturwissenschaftler sind Alliierte in dem Großangriff gegen die Verborgenheit. Man könnte sagen, wir leben wie in einer Art Bergwerk, in dem die Förderung von neuen Sichtbarkeiten betrieben wird. Die profanen Kohlengruben wurden in Deutschland in den letzten Jahrzehnten wegen Unrentabilität aufgegeben, aber die Bergwerke, die das »Gebirg des Seins«, die lethe , die Verborgenheit ausbeuten, arbeiten mehr denn je auf Hochbetrieb. Ihre Förderungen gehen über alles bisher Gekannte hinaus. Denken Sie an die neuen Bilder der Erde vom Weltraum aus, aufgenommen mit Kameras an Bord von Satelliten: Sie liefern einen
Weitere Kostenlose Bücher