Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
zu so etwas wie einer modernen Form des Heiligen entwickelt. Man findet heute allenthalben den Bezug auf das Progressive, ob es die Ornamente auf Geldscheinen sind oder die Firmenlogos der großen Unternehmen. Es scheint geradezu, als ob dieses seltsame Wort eine universale Bewegungsmetapher darstellt, ohne die sich die Modernen in der Welt nicht mehr orientieren können. Es gibt nicht viele Ausdrücke dieses Typs. Der einzige Begriff, der in seiner Allgemeinheit und Bedeutsamkeit gleich mächtig wäre, ist vielleicht noch der der Zirkulation, des Kreislaufs. Die herkömmliche Ehrfurcht vor den Kreisprozessen – beginnend bei der Selbstbespiegelung Gottes bis hin zum ökologischenAbfallrecycling – geht auf die metaphysische These zurück, daß Gutes und Zirkuläres letztlich dasselbe sind.
Nakschbandi: Zunächst also eine ganz runde Sache. Und doch kam etwas dazwischen?
Sloterdijk: So kann man sagen. Die bürgerliche Welt hat seit dem 18. Jahrhundert angefangen, das Gute in der Linie zu suchen. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, weil die Linie in der traditionellen Geometrie keine hohe Reputation besessen hatte. Man sah die linearen Abläufe früher immer als die endlichen und ermüdbaren Bewegungen an, die im Grunde nirgendwo hinführen können, außer in den Verfall. Die Kreisläufe hingegen führen in sich selbst zurück, und das qualifiziert sie für die gute Unendlichkeit. Der große Bruch der Neuzeit besteht darin, dass man eine absolute Bewegung neuen Typs konzipiert hat, die stetig von einem weniger wertvollen zu einem wertvolleren Zustand überleitet. Das meint so etwas wie ein »Upgrading« des Seins überhaupt. Ein ziemlich ketzerischer Gedanke – denn wenn man davon ausgeht, dass die Welt von Gott geschaffen worden ist, dann ist ein solches Verfahren die pure Lästerung. Gott kann ja nichts anderes als das Beste geschaffen haben.
Wie kommt es aber, dass wir uns nicht alle wegen Ketzerei verflucht fühlen? Die Antwort lautet: Weil sich bei uns etwa seit dem 16. Jahrhundert eine mentale Umstellung vollzogen hat, deren Tiefgang die zeitgenössischen Menschen noch immer nicht vollständig ermessen können: die Umstellung von einer Metaphysik der fertigen Welt zu einer Metaphysik der unfertigen Welt. Das heißt, wir haben von dem Begriff der Schöpfung, also des fertigen Werks, umgestellt auf den Begriff der graduellen Entwicklung – vom vollendeten Sein zum relativen Werden. Und damit wurden wir befähigt, uns an Bewegungen zu beteiligen, die vom weniger Guten zum Besseren führen, ohne der Blasphemie verdächtig zu sein.
Nakschbandi: Wie soll man sich diese Verwandlung vorstellen?
Sloterdijk: Wenn man direkt von Gott auf die Welt übergeht, kommt man offenbar vom Erstbesten aufs Zweitbeste. So hat es Plato in seinem Timaios , seinem naturphilosophischen Dialog, klassisch artikuliert. Er sagt da: Weil Gott gut ist, und zwar vollkommen gut, muss das, was er in seiner Eigenschaft als Welthandwerker oder Demiurg hervorgebracht hat, so vorzüglich sein, wie es unter der Einschränkung des Realen möglich ist. Das heißt, daß das Werk eines vollkommenen Urhebers um eine Nuance weniger vollkommen sein wird als dieser selbst. Doch wenn auch der Urheber um eine Potenz besser sein muß als seine Äußerung, bleibt das Werk des besten Urhebers das bestmögliche. Damit folgt aus der Vollkommenheit Gottes die der Welt, mit der genannten Einschränkung.
Je tiefer also die Einsicht eines Denkers war, desto optimistischer seine Ausdrucksweise. Optimismus ist das letzte Wort der klassischen Philosophie, denn Denken hieß vorzeiten nichts anderes, als das Sein zu feiern. Die angemessenste Form der Seinsfeier ist das superlativische Reden: Man muß Gott und der Welt nur das Beste nachsagen. Genau an dieser Stelle spüren wir den Bruch zwischen Antike und Moderne am stärksten, denn kein Mensch wäre heute bereit, alles, was ist, als Bestes, Höchstes, Klügstes, Vollkommenstes usw. zu feiern. Diese Superlative sind nur noch in der Satire möglich. Die moderne Welt ersetzt die superlativische Rhetorik durch eine komparativische. Wir wollen jetzt die Zustände ständig so miteinander vergleichen, dass das Frühere das Schlechtere und das Spätere das Bessere sein soll. Damit setzen wir uns in Gegensatz zu allen in der Antike gängigen Theorien: Wenn die Alten über Zustandsveränderungen redeten, erzählten sie fast immer Verfallsgeschichten. Nach ihnen war einst, im Goldenen Zeitalter, alles vollkommen, dann
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