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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der populärsten und spektakulärsten Beiträge zum Angriff der Forschung auf das Verborgene. Paradoxerweise war ja die Erde als ganze vor der Moderne der Inbegriff eines verhüllten Objekts – sie war das Zugrundeliegende, das kein natürlicher Blick umfassen konnte. Heute scheint sie die geheimnisloseste Sache überhaupt zu sein. Wenn ich Ihren Ausdruck Imachination richtig verstehe, weist dieses Hybridwort darauf hin, daß und wie die Maschinenoptik unsere Sehverhältnisse umwälzt. Sobald man den Begriff Umwälzung oder Revolution beiseite gesetzt hat, weil er eine Fehlbezeichnung für einen Vorgang ist, den man viel technischer und genauer fassen müßte, drängt sich ein alternativer Ausdruck für das Grundgeschehen unserer Epoche auf, nämlich Entfaltung. Es genügt, diese Metapher buchstäblich zu nehmen, um der Sache auf den Grund zu kommen. Etwas bisher Verborgenes, Insichverschlossenes, Eingefaltetes, Unbeleuchtetes wird so zerlegt und manipuliert, daß es eine vergrößerte Fläche bildet – man faltet das Zusammengefaltete auseinander und bringt dabei die bisherigen Innenseiten der Falten in die Oberfläche, bis das Licht auf sie fällt. Mit dieser formalen Darstellung des Procedere von Sichtbarmachung überhaupt rührt man an den modus operandi von Aufklärung im allgemeinen. Aufklärer negieren die konventionellen Grenzen zwischen hellen Oberflächen und dunklen Innenräumen und ziehen bisher Verborgenes ans Licht. Daher sage ich, wir leben nicht so sehr in einer Umwälzung als in einer Ausfaltung. In meinem Sphärenbuch habe ich sogar den Vorschlag gemacht, den Begriff Revolution fallenzulassen und ihn durch Explikation zu ersetzen. Das Umwälzen ist eher eine episodische politische Geste, die in gewissen Situationen wichtig wird, wenn es zum Beispiel darauf ankommt, repressive Geheimniskrämer aus dem Weg zu räumen – Monarchen und andere Manipulateure des Arkanums. In ihnen sieht man mit einigem Recht Figuren, die sich der Grundarbeit der Moderne in den Weg stellen, die eben darin besteht, die Dinge immer weiter zu explizieren.
    Roth: Bezüglich dieser Ausfaltung hege ich eine Vermutung. Sie beschreiben den Ausspruch der Maschinisten über den menschlichen Körper: »Voilà une machine bien éclairée« (La Mettrie) auf doppelte Weise, einerseits als Befreiungsschlag und andererseits als Sphärenverlust. Müssen wir nicht inzwischen feststellen, daß der Körper nicht zuletzt aufgrund der durch die Genomik entdeckten Komplexität auf der untersten zellulären Ebene nach wie vor eine recht dunkle Maschine bleibt?
    Sloterdijk: Das ist die Ironie der Forschung – indem sie Komplexität entdeckt, erzeugt sie eine zweite Dunkelheit. Vielleicht gibt es ein Gesetz, wonach die Rätselmasse konstant bleibt.
    Roth: Würden Sie nicht sagen, daß durch diese Rätselhaftigkeit für das menschliche Selbstverständnis wieder eine Art von sphärischer Qualität entsteht?
    Sloterdijk: Man kann das so sehen. Die euphorische Aufdeckungsbewegung, die von den Anatomen des 16. Jahrhunderts bis zu den Physikern und Mechanikern des 19. und 20. Jahrhunderts reicht, verfolgte, wie bemerkt, das Ziel, alles Mögliche sichtbar zu machen, was man früher nicht gesehen hat – bis hin zu den Schallschwingungen, die man im 19. Jahrhundert mittels schwerfälliger Phonographen auf Kohlepapieren mit Hilfe eines Schwanenfederkiels visuell abbildete. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert kamen die Röntgenstrahlen hinzu, die dem Willen zur Transparenz ein fabelhaftes Werkzeug an die Hand gaben. Zuletzt hat man die Bahnen von Atomen in der Nebelkammer visualisiert – und diese Art von Forschung geht weiter. All diese Beiträge zur Sichtbarmachung des bisher Unsichtbaren beginnen der Sache nach mit dem Eindringen der frühen Anatomen ins menschliche Körperinnere und mit der Ausfahrt der europäischen Kapitäne und Geographen auf die Weltmeere. Man muß verstehen, daß die innere und die äußere Kartographie den gleichen kognitiven Habitus ausdrücken, beide stehen im Dienst einer Ausweitung des Sicht- undOperationsfelds. Die anatomischen wie die geographischen Kartographien haben zudem ein wichtiges negatives Merkmal gemeinsam: nämlich daß sie die Anmutungsqualitäten der Körper, ihre Aura, zum Verschwinden bringen – nicht die kulturelle und metaphorische, von der Benjamin sprach, sondern die energetische und reale Aura, die feine Hülle, in der die Körper baden. Atmosphäre heißt ja griechisch zunächst nichts anderes als

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