Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
einen Elementarteilchenphysiker zitiert, der sagt: »The experimenter is not one person, but a composite«, so meine ich darin etwas zu sehen, was Ihrem Konzept der atmosphärischen Realitäten entspricht.
Sloterdijk: Das mag gut sein. In der Tatsache, daß die Bildermacher von heute Teams sind, die anspruchsvolle Techniken bewältigen, liegt aber gerade einer der Gründe, warum ich meine, daß man mit einer übertriebenen Theorie des Verdachts nicht weiterkommt. Die Paranoia sieht von der Welt nur einen kleinen Ausschnitt. Man weiß natürlich, daß Atmosphären vergiftet werden können, man weiß auch, daß gelegentlich die Lüge an der Macht ist. Trotzdem setzen Teamworks, Hochtechnologien und komplexe Akteursnetze dem Betrug und dem entsprechenden Verdacht zunehmend engere Grenzen. Unter Bedingungen der Komplexität ist man eher zum Vertrauen verdammt – was nur so viel heißt, daß man, was immer auch man selber tut, das Funktionieren der anderen Teilsysteme voraussetzen muß. In einem Universum des gerechtfertigten Mißtrauens müßte man auf Galisons These mit Panik reagieren. Sie würde ja bedeuten, alle fälschen und lügen mit. Ich denkeaber, daß dem Mißtrauen nur eine Teilberechtigung zukommt und daß man in den meisten Dingen mit Vertrauen besser fährt. Wenn ich höre, der Experimentator sei selber nur noch ein Element in einer komplexen Situation, die sich selbst observiert, darf ich gelassen bleiben. Das heißt ja nur, daß das meiste mit rechten Dingen zugeht, im Rahmen des Üblichen und Möglichen. Wäre es anders, stünden einem wirklich ständig die Haare zu Berge. Man müßte alles unter Verdacht stellen, an den Gitterstäben der Matrix rütteln und schreien: Ich will hier raus, wie die gefangenen Seelen im Weltkerker nach gnostischer Überlieferung. Modern übersetzt ergäbe das Maschinenstürmerei und den Fluch auf die Wissenschaften. Sobald aber die Realität des Atmosphärischen explizit wird, besitzt man ein Instrument, den Übergang von Argwohn zu Vertrauen zu moderieren. Ein leninistischer Rest kann schon ins Spiel kommen: Vertrauen ist gut, Kontrolle besser, wieso auch nicht? Vertrauen ist das Resultat von abgesicherten Erwartungen, und Kontrolle ein Absicherungsmodus unter anderen. Aber sie hat nicht das letzte Wort. Lenin ist nur eine Stimme in dem Streit zwischen den Grundstimmungen Argwohn und Vertrauen.
Roth: Sprechen Sie nun nicht von einem Gehlenschen Blindlings-Vertrauen in der Form, daß ich Verantwortung einfach abgebe? Ich meinte ein ganz anderes Bewußtsein, das gerade nicht diese Gehlensche Entlastungsfunktion erfüllt.
Sloterdijk: Man sollte Gehlens große ökonomische Entdeckung, die er Entlastung nennt, nicht unterschätzen. Ohne sie wären schon die einfachsten Situationen nicht bewältigbar. Wer nicht durch zwanghafte Allkontrolle verrückt werden will, muß immer mit einem atmosphärischen Urvertrauen anfangen. Kein Mensch kann sich sehr lange fragen, ob die Luft im Raum atembar ist oder nicht. Wir müssen einfach mit der Atembarkeitsvermutung beginnen und sehen, wie weit man mit ihr kommt. Diese Grunddiagnose, daß wir zum Vertrauen verdammt sind, läßt sich vielfach belegen. Durchgehend zeigt sich ein Zusammenhang mit der Emergenz des Atmosphärischen. Seltsamerweise wird man auf die Atmosphäre ja erst durch ihre Zerstörung aufmerksam. Sie ist das Milieu des Urvertrauens, aber das begreifen wir in der Regel erst, wenn sie durch intentionale Angriffe zerstört wird. Dann aber muß das Nachdenken über den Schutz der Atmosphäre konkret werden. Wenn man begriffen hat, wie zerstörbar die subtilen, die atmosphärischen Prämissen des Lebens sind, wird man imstande sein, das Vertrauen mit der Vorsicht richtig zu konfigurieren. Die Erinnerung an das Schlimmste kommt dem Zerbrechlichsten zugute. Wir wissen, was in Auschwitz passiert ist, wir wissen, was in Hiroshima geschah – es ging dabei um Großtötungsaktionen durch Zwangsversetzung von Menschen in unlebbare Umwelten. Der Atmosphärozid ist die typisch moderne Form des Vernichtungskriegs. Doch gerade weil das alles geschehen ist, müssen wir heute das Vertrauen mit den Alarmanlagen kombinieren. Die Menschen sind also mehr denn je auf die Kohabitation mit den Maschinen angewiesen.
Roth: Wobei es bei dieser Kohabitation nicht um einen einzelnen Menschen geht, auch nicht um die klassische Relation von Ich und Welt. Das bliebe zu einfach. Man hat es mit vielen Subjekten zu tun, die via Maschinen zu einem großen
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