Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Komplex amalgamiert werden.
Sloterdijk: Man sollte diese Subjekte besser Agenten nennen. Wir wollen jetzt ja nicht über ihre ontologischen Eigenschaften reden oder ihre erkenntnistheoretischen Privilegien. Das Subjekt ist – wie Schopenhauer sehr schön sagte – das, was alles erkennt und von keinem erkannt wird. Eine viel zu pathetische Figur im Kontext unserer praktischen Sorgen. Wir denken eher an Agenten, die für ihre Handlungen und Äußerungen kompetent sind. Bei einer solchen Sicht erscheint die Welt von solchen aktiven Figuren bevölkert, die gar nicht anders können, als ständig durch Äußerungen und Handlungen aufeinander einzuwirken. Sofort stellt sich die Frage: welche Rolle spielen dann die von den Agenten erzeugten Bilder bei dem Versuch, ihre Operationen zu koordinieren?
Roth: Der Status von Bildlichkeit hat sich in den riesigen wissenschaftlichen Bildkomplexen verändert. Es geht gar nicht mehr um den konventionellen fixen Bildbegriff, sondern um das Bild als Kommunikationsmedium. Dieses performative Etwas befindet sich in ständiger Bewegung. Wegen seiner bloß noch datenförmigen Seinsweise tendiert dieses Etwas zu einer gewissen Ungreifbarkeit. Mediale Grenzen, wie zwischen Text und Bild, lösen sich auf. Die Maschine konstituiert sich aus diesem Prozeß der einzelnen Subjekte und wird zu einem Amalgam.
Sloterdijk: Einen ähnlichen Gedanken, scheint mir, hat Deleuze mit der neuen ontologischen Figur des »Gefüges« ins Gespräch gebracht. Solche agencements sind gegenüber der Differenz Mensch-Ding zunächst ganz indifferent. Sie bilden dynamische Einheiten jenseits von Mensch, Maschine und Umwelt. Auch Bruno Latours Soziologie der epistemologischen Felder geht genau von solchen größeren Einheiten aus. Der Forscher ist gegenüber dem environment – dem Labor, in dem er gerade sitzt, dem Computer, vor dem er schreibt, oder dem Apparat, den er bedient – nicht mehr absolut privilegiert. Er erscheint als ein Agent unter Agenten. In solchen Agentenensembles stellt sich heraus, daß der Mensch-Ding-Gegensatz nicht mehr weiterführt. Aber was sehr wohl weiterführt, ist jeder Beitrag, der hilft, das kommunikative Fluidum besser zu verstehen – womit wir wieder auf die atmosphärologische Dimension zurückkommen. Zwischen der Atmosphärentheorie und der Theorie der Agenten-Ensembles gibt es eine ziemlich starke Resonanz. Die erste scheint eher menschennahe zu sein, die andere eher menschenfern, beide zusammen liefern ein realistischeres Bild der hyperkomplexen Lage.
Roth: Eine abschließende Frage: Was ist ihr Lieblingsbild zu Hause?
Sloterdijk: Ach, ich denke, ich habe gar kein Lieblingsbild zu Hause. Doch gibt es für mich einen Lieblingsanblick. Sie sehen, ich komme von dem Unterschied zwischen Bild und Anblick nicht los. Früher war ich ein reiner Kunstästhetiker. Ich bin nun auch ein Stück weit Naturästhetiker geworden und zu dem Schluß gekommen, daß mir Anblicke oft viel lieber sind als Bilder. Das ist nicht so außergewöhnlich, Bazon Brock hat gelegentlich bemerkt, er sieht lieber einen Busen als ein schwarzes Quadrat – und ich gebe zu, meistens geht mir das auch so. Ich lese Brocks Statement als Plädoyer für den Anblick. Ich zum Beispiel liebe vor allem den Anblick meiner Bibliothek, besonders am Abend, wenn ich spät nach Hause komme. Ich lasse meistens das Licht an, um das Gefühl zu haben, ich werde erwartet: Ich mag dieses Umzingeltsein von guten Geistern, vielen Tausenden stiller Berater, die mir ihre Dienste anbieten und mich davon abgesehen in Ruhe lassen.
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[ 18 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Tim Otto Roth erschien unter dem Titel »Bild und Anblick. Versuch über atmosphärisches Sehen« (15. Februar 2005) in: (Abfragedatum 9.1.2013).
Tim Otto Roth lebt und arbeitet in Oppenau und Köln.
Das heilige Feuer der Unzufriedenheit.
Peter Sloterdijk über den Fortschritt
Im Gespräch mit M. Walid Nakschbandi [ 19 ]
Nakschbandi: Herr Sloterdijk, es heißt: »Der Fortschritt sitzt im Sattel und reitet die Menschheit« – hat der Fortschritt mittlerweile die Menschheit im Griff?
Sloterdijk: Für Pferdenarren ist das vielleicht akzeptabel – dennoch soll man sich vor schiefen Bildern hüten. Ein Schritt kann nicht zugleich ein Griff sein. Trotzdem ist es gut, ein wenig exzentrisch anzufangen. Tatsächlich hat sich seit dem 18. Jahrhundert dieser fatale Begriff des Fortschritts
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