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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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»Dunstkugel«, und alle lebenden Körper leben in spezifischen, optisch nicht ohne weiteres darstellbaren Dunstkugeln. Dasein heißt eine Atmosphäre haben, um es etwas zugespitzt zu sagen. Unsere ganze bisherige Bilderpolitik beruhte darauf, daß man die Körper ihrer Atmosphäre entkleidete. Durch den Abzug der Atmosphäre erst wurde es möglich, die Körper auseinanderzuklappen und Ebenen der Sichtbarkeit offenzulegen, die es so bisher nicht gab und nicht geben konnte. Der Preis für den Vorstoß durch die Oberflächen besteht darin, daß man die feinen Hüllen wegdenken muß. Das erkennt man besonders deutlich an den herkömmlichen Landkarten. Seit jeher erzeugen sie ein klimaloses Weltbild, weil sie immer nur ein Terrain ohne Atmosphäre darstellen können. Das Auge des Geographen schaut von oben auf das Gelände, als ob es keine Luft und keine Wolken darüber gäbe. Man kann zwar mit graphischen Symbolen auf spezielle Fauna-, Flora- und Bodenformationen hinweisen, auch kann man politische Farben verwenden, um zu signalisieren, daß in dem grünlichen Land polnisch und in dem gelblichen Land tschechisch gesprochen wird, aber das ändert an dem primären Befund nichts: Das geographische Objekt wird immer entatmosphärisiert. Bei allen traditionellen Bildverfahren war stets die Atmosphäre die große Verliererin, angefangen mit den Kartenaufnahmen der Kolonialisatoren im 16., 17. und 18. Jahrhundert und endend mit den Magnetresonanzsystemen der Gegenwart. Was diese Verfahren sichtbar vor uns hinstellen, ist ein Körperschnitt minus auratische Hülle. Dabei fällt alles weg, was durch Techniken dieses Typs nicht erfaßt werden kann. Nichtsdestoweniger darf man nichtbehaupten, daß auratische oder atmosphärische Größen gar keinen Anwalt in der Theorie gehabt hätten. Ich möchte daran erinnern, daß Platon bei der Konstruktion des Kosmos darauf geachtet hat – im Timaios kann man das nachlesen –, dem Weltkörper eine Seele, eben die Weltseele, mitzugeben, die diesen nicht nur von allen Seiten durchdringt, sondern auch wie eine Hülle umgibt. Man könnte das als ein Zugeständnis an den atmosphärischen Imperativ verstehen – als hätte Plato zum Ausdruck bringen wollen, daß es auch beim größten Körper, dem Kosmos, ohne Hülle nicht geht. Die Lagebeziehungen zwischen Körper und Seele müssen präzise festgelegt werden. Der Körper soll in der Seele sein, nicht die Seele im Körper – und diese Bedingung wird vom platonischen Weltkörper erfüllt. Wäre es anders, geriete man direkt in eine Metaphysik des Todes, da sich dann die Seele als Gefangene des Körpers verstehen und von postmortaler Befreiung phantasieren müßte, eine Position, die ideengeschichtlich fatalerweise ziemlich breit belegt ist – ausgerechnet durch falsch gelesene platonische Motive. Bei Platon selbst jedoch durchdringt die Weltseele das Kosmosganze so, daß sie auch über den Rand hinausstrahlt, vergleichbar einer Aura oder einer Corona. Der Körper schwimmt in seinem atmosphärischen Überschuß. Das muß man sich merken, denn jetzt kommen wir auf das Drama zu sprechen, das sich in den heutigen Bildwelten abspielt. An zahlreichen Indizien läßt sich ablesen, wie gegenwärtig die Reduktion des Atmosphärischen mehr und mehr rückgängig gemacht wird. Die zum Verschwinden gebrachten Hüllen melden sich zurück, aus den unterschiedlichsten Motiven und den diversesten technischen und psychologischen Quellenlagen. Was in der herkömmlichen Kartographie ein entbehrliches Surplus gewesen war, wird wieder als Sachverhalt eigenen Rechts sichtbar und erlangt die Würde einer explizit darzustellenden Entität. Das ist, meine ich, ein sehr bedeutender, ein glücklicher Moment in der Geschichte der Sichtbarkeit: Das vormals Unsichtbare, das Atmosphärische, ist heute selbst so weit gekommen, daß man ihm eigeneganz explizite Visualisierungen und Theatralisierungen widmet. Das Paradigma dafür liefert die Meteorologie, von deren Bedeutsamkeit man sich nicht leicht eine Vorstellung macht. Man hat erst vor rund zweihundert Jahren, in der Goethezeit, mit diesem großen Gespräch über die Luft begonnen, das die Menschheit seither in Atem hält, Goethe selber hat sich übrigens sehr für die Morphologie der Wolken interessiert. Seit wenigen Jahrzehnten haben wir dank Satellitenoptik eine völlig neue Form von bebilderten Wetternachrichten im Fernsehen kennengelernt. Über dieses mediale Genre wäre bei Gelegenheit eigens zu reden. Die tägliche

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