Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Ellipsen und Hyperbeln, zwei Stilmitteln, deren Nützlichkeit für die Verdeutlichung von Gedanken man nicht abstreiten kann. Von manchen Kollegen wurde mir ein zu reichlicher Gebrauch von Metaphern vorgeworfen, worauf ich antworte, daß Begriff und Metapher keine Gegensätze sein müssen, oft stellen Metaphern Begriffe in einem höheren Zustand dar. Natürlich gibt es Theoretiker, die in einer anderen Rationalitätskultur sozialisiert wurden und mit einer assoziativeren Sprache nicht zurechtkommen. Sie sind gewöhnt, darüber zu diskutieren, ob eine Aussage wie: »alle Junggesellen sind unverheiratete Männer« als analytisches Urteil gelten darf. Bei meinen Sprüngen und Hopsasas bleiben sie mißtrauisch und neigen dazu, »Gedankendichtung!« zu rufen oder »Metaphernspuckerei!«.
KLEIN: Meinen Sie, daß das Live-Denken im Gegensatz zum redigierten Denken höher zu bewerten wäre, weil es schwieriger ist?
SLOTERDIJK: Schwieriger nicht unbedingt, doch seltener. »Live« ist ein Begriff aus der Übertragungstechnik, die uns Teilnahme an entfernten Ereignissen erlaubt. In der Regel ist man ja nicht dabei, wenn irgendwo gedacht wird. Und meistens ist es lange her, daß Denken stattfand. Wenn man Glück hat, gibt es Aufzeichnungen davon, die man viele Jahre später nachlesen darf.
KLEIN: Das Wort »nachlesen« bringt mich jetzt zu einer wesentlichen Frage. Ich habe den Eindruck, für Ihr Werk beginnt seit einer Weile die Phase der Aufarbeitung, noch zögernd, doch in Ansätzen erkennbar. Ihr in Buchform publiziertes Œuvre macht bisher nur den kleineren Teil Ihrer Arbeiten sichtbar. Die vorliegende Interviewsammlung gibt eine erste, extrem selektive Andeutung von dem, was Sie im Tagesgeschäft der Zeitkritik nebenbei produziert haben. Was Ihre Vorträge und Aufsätze betrifft, die im letzten Vierteljahrhundert entstanden, gibt es meines Wissens noch keinen Editionsplan, er müßte eine Reihe umfangreicher Bände vorsehen. Der Löwenanteil Ihres unbekannten Werks entfällt aber, soweit ich sehe, auf Ihre akademischen Vorträge, von denen nur die Hörer eine Vorstellung haben, die dabei waren. Da liegen vermutlich große Schätze an Live-Denken verborgen. Was haben Sie damit vor?
SLOTERDIJK: Zwanzig Jahre lang habe ich an der Akademie der Bildenden Künste in Wien ohne Wiederholungen zu vielen Themen vorgetragen, die Tonbänder davon müßten in diversen privaten und hochschuleigenen Archiven herumliegen. Auch die öffentlichen Veranstaltungen in Karlsruhe sowie die dortigen Seminare sind zum großen Teil dokumentiert, aber nicht erschlossen. Nur ein einzelner kompletter Vortrag, die Schlußvorlesung des Zyklus über das klassische griechische Theater im Saal der Landesbibliothek von Karlsruhe, ist 1999 als Hörbuch bei supposé erschienen – eine Deutung des sophokleischenDramas unter dem Titel »Ödipus oder Das zweite Orakel«. An dem Stück kann man so ungefähr ablesen, wie es zuging, wenn ich am Live-Pol frei agieren konnte. Es gab vor längerer Zeit auch einmal eine Audio-Kassette aus dem Auer-Verlag mit sechs Mitschnitten von Vorträgen, aber denen lagen, soweit ich mich erinnere, fertige Manuskripte zugrunde. Ich schätze, es liegen an die 1500 Stunden mündlicher Rede in den Archiven. Bedauerlicherweise hat der Suhrkamp Verlag sich nicht dazu entschließen können, die Betreuung der Dokumente zu übernehmen. Dafür hat es beim Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe einen ersten Anlauf gegeben, die Sachen zusammenzutragen und zu archivieren. Man hat ein Gutteil der Dokumente digitalisiert und durchgehört, um sie zu indexieren, in der Absicht, anhand der notierten Schlüsselworte zu entscheiden, welche Stücke sich für eine Transkription eignen. Ich vermute, daß man das meiste ohne Bedauern vergessen darf, aber manches wäre es vielleicht wert, hervorgeholt zu werden. Im Moment sieht es so aus, als könnte man damit in den nächsten Jahren vorankommen. Es gab übrigens zu der damaligen Zeit in Wien und in Karlsruhe ein treues Publikum, teils aus der Hochschule, teils aus der Stadtöffentlichkeit, das mir durch seine Anwesenheit die Illusion erlaubte, nicht ganz in den Wind zu sprechen. Leider war ich nie in der Lage von Meister Eckart, wenn er behauptete, er sei des Gottes so voll gewesen, daß er dem Opferstock gepredigt hätte, wären keine Hörer da gewesen. Ich saß gern einem Publikum gegenüber und ließ mich durch seine Anwesenheit inspirieren.
KLEIN: Nicht zu vergessen, das
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