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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Philosophische Quartett ist noch in den Archiven des ZDF verfügbar.
    SLOTERDIJK: Wenn ich richtig zähle, haben wir in zehneinhalb Jahren 63 Sendungen zustande gebracht. Die Auftritte in der eigenen Fernsehsendung bilden eine Sonderkategorie, die mit meiner übrigen Arbeit praktisch nichts zu tun hat. In den Quartetten habe ich mich immer sehr zurückgenommen, bis auf ein paar Ausnahmen, wo ich ein wenig heftiger fabulierte. Ansonsten war ich meistens der verhaltene Moderator, der seine Hauptsorge darin sieht, den Gästen einen optimalen Rahmen anzubieten. Es war Glanzlosigkeit als Leistung, wenn man so will, das hatte auch einen Reiz.
    KLEIN: Wenn ich jetzt noch kurz Kant aus der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« zitieren darf: »Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Prinzipien der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur völligen Befriedigung erreicht ist, und das würde heißen, die Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie fest steht, nachher durch Popularität Eingang verschaffen.« Konnten Sie sich bei Ihrer Arbeit als öffentlicher Intellektueller mit dieser Aussage identifizieren?
    SLOTERDIJK: Ich werde den Eindruck nicht los, daß Kant sich hier viel schlichter stellt, als er wirklich dachte. Er gibt vor zu glauben, die Philosophie sei eine resultative Wissenschaft, die bei letzten Einsichten Halt macht. Die dürfte man dann natürlich ohne Scheu popularisieren. Aber so liegen die Dinge nicht. Ich nehme an, wüßten die Philosophen irgend etwas Relevantes mit völliger Sicherheit, es wäre inzwischen durchgesickert. Seit Kant hatten die Denker zwei Jahrhunderte Zeit, sich einig zu werden, sie wurden uneiniger denn je. Das Modell der Ex-cathedra-Popularisierung metaphysisch gesicherter Doktrinen läßt sich auf die geistige Situation der Gegenwart nicht anwenden. Kein Mensch weiß mehr, was allgemein zwingende »metaphysische Grundlagen« sein könnten. Die Theoretiker sind sich nicht einmal einig, ob das Wort »Grund« ein sinnvoller Ausdruck ist. Das ganze Geschäft des »Grundlegens« ist problematisch geworden, man hat den Eindruck, jeder Grundleger dreht sich im eigenen Kreis. Im übrigen ist an dem symptomatischen Metaphernfehler in der von Ihnen zitierten Bemerkung Kants abzulesen, daß er selber unschlüssig war, in welcher Gegend die sogenannten Prinzipien zu suchen wären: Zuerst soll man sich zu ihnen »erheben«, zwei Zeilen später findet man dieselben Prinzipien wieder ganz unten als den sicheren Boden, auf dem die populäre Lehre »fest stehen« soll. Die Debatte über das »Gründen« läuft seit einiger Zeit leer. Mir scheint, am besten wurde sie resümiert durch den Le Corbusier zugeschriebenen Ausspruch: »Die Grundlage ist das Fundament der Basis.«
    KLEIN: Aber was ist es dann, was ein Philosoph mit der breiteren Öffentlichkeit noch teilen könnte?
    SLOTERDIJK: Ich neige dazu, die Philosophie nicht als spezialisiertes Fach, sondern als Modus des Bearbeitens von Themen aufzufassen. Wer more philosophico denkt, stellt positives Wissen vor den Hintergrund von Nicht-Wissen und in den Kontext von allgemeinen Sorgen. Dabei entsteht ein Pendeln zwischen Affirmationen und skeptischen Momenten. Wenn man das längere Zeit betreibt, kann man sich davon überzeugen, daß wir in unserem Gedankenaustausch viel mehr das Nicht-Wissen gemeinsam haben als das effektive Wissen. Dieser Modus des Denkens läßt sich von den nicht-professionellen Teilnehmern solcher Übungen mit der Zeit übernehmen. Dabei lernt man Trittsicherheit in unsicherem Gelände. Für ein solches modal philosophisches Verhalten stehen viele Wege offen. Es kann auch künftig ein größeres Publikum berühren, während es unrealistisch wäre zu erwarten, daß die Philosophie als akademisches Fach aus ihrer Klausur noch einmal herauskommt. Es gibt glücklicherweise eine Reihe von gut etablierten Disziplinen wie die Anthropologie, die Linguistik, die Ethnologie, die Psychologie, die Systemik, neuerdings auch die Neurologie und vor allem die Kulturtheorie, die von der Logik ihrer Gegenstände her mehr oder weniger philosophie-nahe arbeiten oder arbeiten könnten. Ihre Akteure wissen ziemlich genau, was sie können und wo die Grenzen ihrer Kunst liegen. An diesen Befunden kann man anknüpfen. In den genannten Fächern sind die Archive gefüllt mit Erkenntnissen, die sich zu einer nach-skeptischen Darstellung vor dem Publikum eignen. Ich tue seit

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