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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Glücks?
    Sloterdijk: Ich erinnere an die berühmte Metapher von Thomas Hobbes, nach der das Leben ein Wettrennen bedeutet: Ständig überholt zu werden, ist Unglück, ständig andere zu überholen, ist Glück, sagt der Philosoph. Für diejenigen hingegen, die im Mündungsbereich stehen, hören das Überholen und Überholtwerden auf, weil solche Bewegungen nur am Anfang einer Optimierungsreihe sinnvoll sind und sie ihren Zweck verlieren, wenn man die Lösung gefunden hat. Macht man dann immer noch weiter, ist man einer bloßen Gewohnheit zum Opfer gefallen.
    Aber lassen Sie mich den begonnenen Gedanken zu Ende führen: Ich wollte erklären, warum der Begriff des Fortschritts meiner Meinung nach nicht mehr geeignet ist, unsere Erfahrungen mit der Modernisierung auszudrücken. Wir sollten ihn durch zwei oder drei andere Konzepte ersetzen, die den aufbewahrenswerten Sinngehalten des alten Fortschrittsbegriffs besser entsprechen als dieser selbst. Ich nenne für den Augenblick zwei solcher Ausdrücke: Entlastung und Verdichtung . Der erste dieser Termini geht auf den Anthropologen Arnold Gehlen zurück, und ich sage nicht zuviel, wenn ich zugebe, daß er in meinen Augen die wichtigste Katgeorie der modernen Humanwissenschaften darstellt. Er beschreibt die Grundrichtung der technischen und sozialen Evolution auf eine verblüffend überzeugende Weise. Nehmen wir an, ein Anhänger des Fortschritts sollte erklären, wohin die progressive Reise geht, so wird man in der Regel die triviale, aber triftige Antworterhalten, man bewege sich auf Zustände zu, in der die Menschen es besser als bisher haben. Was heißt besser? In diesem Komparativ steckt praktisch alles, was mit dem Begriff Entlastung zu bezeichnen ist. Wo schwere Gewichte zu tragen waren, sollen Verfahren gefunden werden, die Dinge leichter handhabbar zu machen. Natürlich sind schwer und leicht subjektiv getönte Ausdrücke, die nicht für alle dasselbe bedeuten. Dennoch versteht jeder, was mit der Erleichterung von Lebenslasten gemeint ist.
    Wenn ich die Sache vom technischen Pol her erläutern soll, spreche ich gerne über die Geschichte der Tastengeräte. Dies sind die Objekte des heutigen Alltags, an denen man die technisch ermöglichte Umstellung von schweren zu leichten Handlungen am sinnfälligsten demonstrieren kann. Auf einer früheren Technikstufe hatten die gewöhnlichen Werkzeuge zumeist Griffe – ein Griff ist bekanntlich eine Soll-Kontaktstelle zwischen Hand und Instrument. Solche Werkzeuge waren also Körperextensionen oder Organverlängerungen im Sinne von Marshall McLuhan, sprich direkte Fortsetzungen des Arms und der Hand in einem härteren Material. Mit einer Stielaxt spaltete man das Holz, das man im Küchenofen verbrennen wollte. In der Griff-Werkzeuge-Welt führte der Akteur die meisten lebensdienlichen Gesten noch mit eigenem physischen Einsatz aus – das hatte der Engel der Vertreibung gut getroffen, als er vom Schweiß des Angesichts sprach, ohne den man sein Brot nicht essen soll. Heute leben wir in einer Tastenwerkzeugewelt, in der sich die Einsätze völlig anders darstellen – wir drücken einen Knopf oder legen einen kleinen Schalter um, und die Wärmequellen springen von selber an. Um den Entlastungssinn von Technik zu erklären, kann man also auf den Übergang von ganzhändigen Gesten zu Fingerspitzenoperationen verweisen – ein Übergang, der für die aktuelle Geräteszene typisch ist. Wir bewegen heute die Welt mit einem Auflagedruck von fünf oder zehn Gramm – fast so wenig wie früher der Tonarm eines Plattenspielers auf die Rille brachte. Das ist vielleicht die unscheinbarste Art und Weise, die Tendenz des technischen Realitäts- handlings zu charakterisieren, und zugleich die dramatischste. Genau hier kommt der Begriff Entlastung ins Spiel: Weil er eine Tendenzbezeichnung für die Umwandlung des Arbeiters in den Benutzer enthält, kann er einen Gutteil der sinnvollen Momente aus dem längst viel zu plump gewordenen Fortschrittsbegriff übernehmen.
    Hier müßte man zusätzlich die Geschichte der Analgetika einschalten. Niemand erinnert sich heute mehr daran, daß man bis ins mittlere 19. Jahrhundert keine chirurgischen Operationen durchführen konnte, ohne die Patienten schauerlich zu malträtieren. Dann kamen in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten effektiven Naskosemittel auf. Wenn ich mich recht entsinne, wurde die erste erfolgreiche Operation unter Chloroform-Narkose in einem Krankenhaus in Massachussetts

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