Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Staat tritt vor den Bürgern wie ein Pseudounternehmer auf, indem er ständig von Innovationen und Reformen faselt, und warum? – weil er von seinem eigentlichen Geschäft, der fiskalischen Kleptokratie und ihrer Rechtfertigung durch Umverteilung, nicht offen reden kann, will und darf.
Eine zweite Dimension des Fortschrittsbegriffs, bei der man mit der traditionellen Rhetorik überhaupt nicht weiterkommt, ist das Phänomen der zunehmenden Dichte. Ein Gutteil dessen, was wir bisher als Fortschritt bezeichnet haben, läßt sich viel besser als Verdichtung bezeichnen. Hat man den Eindruck, daß die Dinge sozial vorangehen, so hängt dies in der Regel mit einer Zunahme von Dichte bei Transaktionen zusammen. Zunehmende Dichte bedeutet, daß in einem System von Partikeln die Zahl der Kontakt- und Kollisionsmöglichkeiten steigt. Alsonimmt die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen zu, wo progressive Verhältnisse herrschen.
Nakschbandi: Hört sich gefährlich an …
Sloterdijk: Es ist wirklich gefährlich, und steigende Gefährlichkeit liefert ein präzises Kriterium für die Fortgeschrittenheit von Verhältnissen. Den einfachen Progressisten sind solche Wendungen nicht so leicht zu erklären. Sie wollten den Fortschritt, und was sie bekommen haben, ist die Komplexität. Mit dem Begriff Komplexität verbindet sich der Hinweis, daß überhaupt nichts mehr einfach ist. Unter dem Begriff Dichte lassen sich solche Effekte fassen: Zahllose Partikel, zahllose Institutionen, zahllose Unternehmen, zahllose einzelne rücken immer intensiver aufeinander zu, und das in immer höheren Frequenzen. Die Zahl ihrer Kontakte oder Kollisionen steigt exponentiell. Kürzlich habe ich irgendwo gelesen, daß 10 Millionen E-Mails pro Minute auf der Welt ausgetauscht werden, davon der größte Teil in der industrialisierten Zone. Daneben wirken 10 Millionen Verkehrsunfälle und ebensoviele Privatklagen vor Gericht pro Jahr beschaulich.
Nakschbandi: Was bedeutet diese Komplexität für uns in lebenspraktischer Sicht?
Sloterdijk: Sie bedeutet, daß das Bedürfnis nach Simulation von Einfachheit steigt. Souverän ist, wer komplizierte Verhältnisse einfach machen kann. Darum ist Souveränität das höchste Gut, nach dem moderne Individuen fragen. Wie man weiß, besteht die beliebteste Simplifikationstechnik darin, Probleme zu ignorieren. Ignorieren heißt ungelöste Angelegenheiten als gelöst ansehen – das macht Ignoranz als praktisches Äquivalent für Überlegenheit unwiderstehlich. Allgemein gesprochen besteht ein ungeheurer Bedarf an Komplexitätsbewältigungstechniken. Anbietern effektiver Simplifikationen steht heute der Markt aller Märkte offen. Natürlich hat auch das sehr viel mit Entlastung zu tun.
Durch Komplexität steigt die Belastung bei den Problemlösern, was wiederum einen neuen Schub von Entlastungstechniken nach sich zieht. Dieser Zusammenhang ist der Kern der sogenannten Wissensgesellschaft. Wissen, das uns wirklich interessiert, ist immer Ermächtigungswissen, mit dem man Komplexität handhabbar macht. Handhabbar bedeutet: Die Dinge sind so aufbereitet, daß man mit der Fingerspitze am Computer eine profitable Entscheidung tätigen kann.
Der Begriff der Verdichtung hilft außerdem zu erklären, warum wir trotz der ungeheuren Entlastungen, in die unser Leben eingebettet ist, den Eindruck haben, die Dinge würden nicht einfacher, sondern bilanzmäßig schwieriger. Wieso wird trotz unleugbaren »Fortschritts« die Welt nicht transparenter und benutzerfreundlicher? Die zunehmende Komplexität ist eine echte Zumutung – und gegen die wird man sich früher oder später auflehnen, wenn man etwas anderes erwartet hat. Die am meisten erbitterten Fortschrittskritiker sind enttäuschte Fortschrittsgläubige. Aber darf man sich als Anwender eines falschen Ausgangsbegriffs wirklich beschweren, sobald man merkt, daß er nicht funktioniert? Ist man nicht selber verantwortlich für die Enttäuschung, die aus der Wahl des irreführenden Leitworts folgt? Man sollte auf den Ausdruck Fortschritt verzichten, wenn man nicht in eine semantische Falle geraten möchte. Daß man in einer solchen sitzt, merkt man unter anderem daran, wie man durch den Gebrauch gewisser Wörter in defensive Lagen und depressive Zustände gerät. In diesem Fall sieht man sich besser nach einer anderen Sprache um.
Nakschbandi: Kann die westliche Kultur in diesen Fragen von anderen Kulturen lernen?
Sloterdijk: Die meisten Angehörigen der westlichen Welt gehen
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