Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
brachen erste Mängel ein, schließlich wurde alles ziemlich schlecht und zuletzt ganz verheerend. Mit dieser dritten Verschlechterung erreichen wir die Gegenwart der Erzähler, das eiserne Zeitalter, in dem die Menschen sich vorfinden. Mit einer solchen Erzählung in absteigender Linie konnte man volkstümlich erklären, warum die Menschen sich miserabel fühlen: Es geht ihnen schlecht, weil sie am trüben Ende eines Abstiegs vom Vollkommenen zum Korrupten leben.
Allerdings gab es in der antiken Welt daneben auch ein geheimes Wissen, das seine Adepten dazu anleitete, das allgemeine Unglück als ein scheinbares zu durchschauen. Die wirklichen Weisen von früher meinten, einen geheimen Grund zum Jubeln entdeckt zu haben, der eine innere Glücksreserve freisetzte. Nach ihnen war ein Mensch, der an der Welt litt, eigentlich nur auf den Schein des Unglücks hereingefallen. Diese tiefe Ironie definiert das Verhältnis zwischen dem Weisen und der Menge in der antiken Welt: Der Weise gab vor, einen tief liegenden Glücksgrund entdeckt zu haben, den die gewöhnlichen Unglücklichen nicht wahrzunehmen imstande waren. Er allein sah esoterisch die großen Ordnungskreisläufe, während die Profanen in ihren kurzatmigen Unglücksgeschäften befangen blieben.
Genau das ändert sich in der Moderne. Mit ihr hat sich eine große Vorzeichenumkehrung vollzogen, und zwar durch den erwähnten starken Gedanken des Fortschritts – wir müssen allerdings zugeben, daß wir von ihm üblicherweise nur noch eine völlig ausgeleierte Form kennen. Immerhin ziehen auch wir unsere Vergleiche unter einem semioptimistischen Licht, da wir gewohnt sind, das weniger Gute mit dem Besseren zusammenzustellen. Wir bleiben Optimierungslogiker oder Weltverbesserer, zumindest aber Dinge-Verbesserer. Diese Logik steht im Hintergrund aller bis heute verbindlichen pragmatischen Programme. Die Verbesserungspflicht bezieht sich auf sämtliche Existenzbereiche – das alltägliche Umfeld, die Maschinen, die Produktionsprozesse, die Medikamente, die Unterrichtsmethoden, die Wohnverhältnisse und so weiter. Folglich besteht das Seiende für uns nicht mehr aus perfekten Archetypen, sondern aus einer Serie von Verbesserungen. Die Urbilder Platos verwandeln sich in optimierbare Modelle. Modellesind Konstruktionsvorlagen, die nach weiterer Perfektionierung streben.
Nakschbandi: Nennen Sie uns ein Beispiel.
Sloterdijk: Das moderne Design liefert anschauliche Vorgänge überall. Nehmen wir ein typisches Design-Objekt wie einen Kugelschreiber. Der mußte zunächst einmal erfunden werden: Alles beginnt mit einer Mine, an deren Spitze eine winzige Kugel eingesetzt ist, das ganze eingefügt in einen haltgebenden Schaft. Die Rotation der Kugel wird durch die Schreibbewegung ausgelöst, wodurch der Tintenfluß aus der Patrone angezogen wird. In einer platonischen Welt wäre der Urkugelschreiber auch schon der endgültige Kugelschreiber, denn nach ihm könnte nichts Besseres mehr folgen. Aus moderner Sicht stellt sich die Sache anders dar, und wir wundern uns gar nicht, daß die Welt überschwemmt wird mit Tausenden von Variationen der Kugelschreiberidee – Variationen, die zum Teil doch mehr sind als bloße Abwandlungen des Archetypus; sie stellen hin und wieder echte Optimierungen oder Weiterentwicklungen dar. Solche Verbesserungen betreffen zum Beispiel den Clip, der bei manchen Modellen versenkbar ist, so daß man sich den besten Anzug nicht mehr versaut, auch wenn man vergißt, die Mine zurückzufahren, oder die Handlichkeit des Objekts oder die Leichtigkeit des Tintenflusses usw. Man hat unzählige Luxus- und Billigversionen von Kugelschreibern entwickelt, und man kann in einem Preisspektrum zwischen 20 Cents und 20 000 Euro jeden Interessenten zufriedenstellen. Eine ungeheure designerische Energie ist da ständig am Werk. Ein längst erfundenes Produkt wird immer wieder so gründlich durchdacht, als sollte es neu erfunden werden.
Aber hat es Sinn, hierbei von Fortschritt zu reden? An dem Kuli-Beispiel kann man ganz gut zeigen, daß es nicht möglich ist, den Anfangsfortschritt, also den konzeptionellen und technischen Sprung, der sich bei der Ersterfindung des Kugelschreibers vollzogen hat, mit der ganzen Wucht des Zum-ersten-Mal zu wiederholen. Es ist nicht möglich, das Objekt wirklich einzweites Mal zu erfinden. Hingegen kann man den Grundgedanken unendlich oft und geistreich variieren – und das genügt in der Regel, um das Gefühl zu wecken, daß der Horizont
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