Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
offen sei. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß Mikrooptimierungen ständig möglich bleiben. Vielleicht ist das die eigentliche Gangart des Fortschritts.
Sämtliche Optimierungstendenzen bei einzelnen Entwicklungen haben natürlich ein Mündungsgebiet. Ich würde behaupten, daß wir uns beispielsweise in sehr vielen Bereichen der technischen und sozialen Evolution heute bereits im Mündungsgebiet der primären Innovationen befinden. Das heißt, viele Erfindungen von einst laufen auf ihre finale Sättigungsphase zu. Überall dort, wo die Modelle weitgehend perfektioniert sind, tritt ein gewisser Stillstand auf, der sich nur noch ästhetisch überspielen läßt – man denke an die Automobilindustrie, die ganz gewiß über ein weitgehend zu Ende gedachtes Produkt verfügt. Man kann zwar weiter Mikroinnovationen akkumulieren, etwa den einklappbaren Außenspiegel, und diese als Revolutionen feiern, aber jedermann ist klar, daß es über das schon sehr Gute hinaus keine wirkliche Verbesserung geben kann.
Doch verstehen Sie mich richtig: Diese Hinweise liefern bestenfalls ein Vorspiel zu dem, was ich aus philosophischer Sicht zum Thema Fortschritt und Innovation sagen möchte. Es dürfte inzwischen feststehen, daß der Begriff Fortschritt eine naive Bewegungsmetapher ist, die sich nur in der Anlaufphase der Industriegesellschaft teilweise bewährt hat. Für diese Übergangszeit war der Begriff des Fortschritts eine nützliche, fast unentbehrliche Pilotenmetapher, weil er denen, die diesen Übergang vollzogen haben, geholfen hat zu glauben, sie führen mit ihrem progressiven Fahrzeug in die richtige Richtung. Die Konservativen teilten übrigens diesen Glauben nie und haben sich daher von Anfang an über den Begriff Fortschritt mokiert.
Nakschbandi: Wer sind diese Konservativen?
Sloterdijk: Konservative sind beispielsweise die christlichen Antimodernisten, die religiösen Fundamentalisten, die Liebhaber der klassischen Metaphysik und die Besitzer erlesener Bibliotheken und Weinkeller. Also all die, die an der Metaphysik der Vollendung festhalten und eher an den Verfall als die Verbesserung glauben. Ferner die moralisch Konservativen, die überzeugt bleiben, daß der Mensch schlecht ist, weswegen man ihn eher zügeln als loslassen soll.
Nakschbandi: Wie kommt aus Ihrer Sicht die Atemlosigkeit zustande, die mit dem Begriff des Fortschritts verbunden ist? Warum sind wir nie mit dem zufrieden, was wir haben?
Sloterdijk: Wir haben jahrhundertelang ausschließlich die Bewegung des Aufbruchs kultiviert und die Kultur des Ankommens vernachlässigt. Mit einer Flußmetapher gesprochen: Im Entspringen sind wir stark, im Münden hingegen ziemlich ungeschickt. Nur in seltenen Momenten gestatten wir uns Rückfälle ins Vollendungsgefühl – das reicht nicht aus, um eine Kultur der Mündung auszubilden. Dabei sind die entsprechenden Szenen jedem gegenwärtig. Sitzen einige progressive Herren in einem wirklich exzellenten Haute-Cuisine-Restaurant beisammen, vergessen sie für ein paar Augenblicke den Fortschritt und begreifen, daß jetzt Vollendung angesagt ist. Sie loben, was sie auf dem Teller haben, so überschwenglich, daß man begreift: Diese Leute brechen nicht auf, sie sind angekommen. Fast überall sonst vermeidet man es, am Ziel zu sein. Man lebt gewohnheitsmäßig in der Aufbruchsautomatik.
Die wenigen bekennenden Angekommenen von heute, die seltenen Genießenden, die Leute in der Mündung des Stroms sind vielleicht Vorboten einer künftigen Zivilisation. Wir verstehen solche Figuren noch nicht sehr gut, denn sie scheinen das heilige Feuer der Unzufriedenheit nicht mehr zu spüren, aus dem der ursprüngliche Fortschritt kam. Ich denke, dies wird sich mit den Jahrzehnten ändern. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind unsere Erfahrungen mit der Innovationsdynamik der Welt so komplex geworden, daß wir mit einer progressistischen Sprache allein unsere Erfahrungen nicht mehr angemessen ausdrücken können. Deswegen ist neben die gewöhnlicheRhetorik des Fortschritts eine Rhetorik der Mündung zu setzen. Man wird früher oder später den Stillstand auf hohem Niveau als äußerst wertvolles Gut begreifen, auch wenn das gewissen zur Dynamik verdammten Unternehmern fürs erste die Haare zu Berge stehen läßt. Aber auch sie sind nicht völlig in Sicherheit vor der subversiven Einsicht, daß sie in manchen Dingen, vielleicht den wichtigsten, längst am Ziel sind.
Nakschbandi: Ist der Zustand des Angekommenseins ein Zustand des
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