Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
durchgeführt; ein Jahr später war das neue Verfahren bereits globalisiert. Von da an explodierte der Medizinsektor in der westlichen Welt, die Chirurgie rückte ins Zentrum der Medizin, die Ärzte konnten den Priestern den Rang ablaufen, und zwar nicht mit der Botschaft: »Wir bringen euch die Erleuchtung«, sondern mit dem Angebot: »Wir betäuben euch, wenn es ernst wird. Wir nehmen euch die Last des Bewußtseins bei Eingriffen ab, und während ihr schlaft, bringen wir in Ordnung, was in Ordnung zu bringen ist.« So klingt ein progressives Angebot – und progressiv ist hier exakt synonym mit entlastend. Dem konnte während des letzten Jahrhunderts eine wichtige Umstellung der religiösen Semantik folgen: Wenn Leben leichter wird, läßt die Nachfrage nach Erlösung nach; statt dessen geraten Erfüllungs- und Verwirklichungsthemen in den Vordergrund.
Der Begriff der Entlastung hat den zweiten Vorzug, daß er die Frage stimuliert, auf wessen Kosten entlastet wird – denn die Entlastung des einen muß naturgemäß die Höherbelastung eines anderen nach sich ziehen, voausgesetzt man rechnet auch als Anthropologe mit einem Konstanzprinzip hinsichtlich desGewichts der Welt. Solche Rechnungen sind offenzulegen, und die Druckverschiebungen sind zu begründen. Wenn beispielsweise die meisten Menschen in der westlichen Welt heute nicht mehr hungern, hat dies unter anderem damit zu tun, daß eine beispiellose Lastenverschiebung auf Kosten der Nutztiere geschehen ist – die Massentierhaltung hat ein unermeßliches animalisches Proletariat erzeugt, dessen Lebensbedingungen nicht nur für Konservative skandalös sind.
Nakschbandi: Wie hängt der Begriff der Lastenverteilung mit diesen Wandlungen zusammen?
Sloterdijk: Lastenverteilung ist für die moderne Welt grundlegend, weil von ihr ein intuitiver und unkonventioneller Begriff von Gerechtigkeit abhängt. Sollte man sagen, was wirkliche Ungerechtigkeit im existentiellen und nicht-juristischen Sinn sei, könnte eine plausible Antwort lauten: Ungerechtigkeit bedeutet, daß es die einen sehr leicht und die anderen sehr schwer haben – und Gerechtigkeit würde die entsprechenden Ausgleichsmaßnahmen bezeichnen. Die Begriffe Belastung und Entlastung zeigen somit einen internen Bezug zum Thema Gerechtigkeit. Die Attraktivität der modernen Gesellschaftsordnung besteht unter anderem darin, daß der Staat in ihr als allgemeiner Garant von Ausgleich fungiert. Daran hängt unter anderem das stark unterschätzte Phänomen des modernen Steuerstaats, der im Lauf des 20. Jahrhunderts in den Wohlfahrtsstaat überführt worden ist. Daß in Deutschland und in vielen westeuropäischen Ländern die Staatsquote beim Bruttosozialprodukt bei 50 Prozent und darüber liegt, ist vielen Zeitgenossen vage bekannt; was das moralisch und psychologisch bedeutet, davon hat kaum jemand einen Begriff. Gut die Hälfte dessen, was die produktiven Teile der Population erwirtschaften, wird also vom Fiskus absorbiert und in eine gigantische Umverteilungszentrifuge gesteckt, wobei der Staat und seine Diener sich selber natürlich nicht vergessen. Im Jahr 2000 betrug in der BRD das Bruttosozialprodukt zwei Billionen Dollar, wovon mehr als die Hälfte der öffentlichen Hand zur Beutefielen. Die modernen Lebensformen sind offensichtlich nur durch die generalisierte Kleptokratie des Staates zu garantieren. Man muß die Dinge auch einmal so betrachten: Man kann doch eigentlich nur in Ehrfurcht erstarren, wenn man die Umverteilungsleistungen der Wohlfahrtsstaatssysteme auch bloß von der quantitativen Seite her betrachtet. Geradezu unheimlich werden diese Zusammenhänge, wenn man ihre Zerrspiegelungen in den herrschenden rhetorischen Systemen in Rechnung stellt. In populären Kommentaren werden die Entlastungssysteme oft so beschrieben, als fände ausschließlich Umverteilung nach oben statt und als ließe unser Staat seine gewöhnlichen Bürger zunehmend Hungers sterben.
Diese Verzerrung des Bildes von den immensen Geldströmen, die der Staat umlenkt, ist unter anderem durch die Sprachlosigkeit des politischen Systems bedingt – es hat keine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten mehr und leiht sich daher sein Vokabular hauptsächlich bei der Wirtschaft aus, die aus begeiflichen Gründen zur ständigen Reproduktion von Unzufriedenheit verurteilt ist. Für den Staat ist diese Anleihe verheerend, denn kein Teilsystem der modernen Gesellschaft kann funktionieren, wenn es nicht seine Eigenwerte pflegt. Der sprachlose
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