Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
durchaus begrüßen kann. Es kommt darauf an, daß man die Medien-Allianzen intelligent rekombiniert. Man kann durch das Fernsehen schnell verblöden, aber nicht mit gesetzlicher Notwendigkeit. Man kann vor dem Computer regredieren, aber auch das muß man keineswegs tun.
Casimir: Geister des Bewahrens möchten das gute alte Buchgegenüber den neuen, technisch überlegenen Medien verteidigen. Auch Sie haben etwas ironisch ins Feld geführt, daß man mit Büchern besser als mit jedem anderen Medium Fliegen erschlagen kann. Reicht das?
Sloterdijk: Eine bloß ironische Verteidigung des alten Mediums Buch wäre ganz falsch. Aus Gesprächen mit Kollegen weiß ich, daß viele, die mit offenen Armen auf die neuen Techniken zugegangen sind, sich heute deutlich skeptischer darüber äußern, was die elektronischen Medien für die Aufbewahrung des Wissens leisten können. Diese Techniken erweisen sich doch als viel fragiler, als man bisher geglaubt hat. Das Buch hingegen ist ein Medium, bei dem man für die ersten 100 Jahre einfach mal Ruhe hat. Es bewährt sich als zuverlässiger Träger dessen, was ihm anvertraut wurde.
Casimir: Eine andere Verteidigungslinie geht dahin, das Buch technisch aufzumöbeln, etwa als eBook. Hat das Chancen?
Sloterdijk: Das sind alles Ideen, die auf der Grundlage dieser entsetzlich billig gewordenen Speicherkapazität vielleicht funktionieren mögen. Früher waren erfolgreiche Speichermedien das kostbarste und seltenste Gut: Marmorplatten, Papier. Heute ist Speicherplatz nach dem Sand der Sahara das billigste und massenhafteste Gut auf der Welt. Das führt zu einer ungeheuren Inflation – und zur universellen Aufbewahrung des nicht Aufbewahrenswerten. In dieser Entropie wird man zukünftig leben müssen. Das gedruckte Buch wird seine elektronische Konkurrenz gelassen überleben.
Casimir: Aber wird es nicht selbst entropisch, das Buch? Ich denke an die jährliche Novitätenflut. Wie kann man zuverlässig feststellen, was man alles nicht lesen muß?
Sloterdijk: Das haben früher die Kritiker für uns erledigt. Sie haben die Vorsortierung geleistet. Kritik in diesem Sinn gibt es heute nicht mehr. Daher muß nun jeder Leser und jeder Kulturagent seine eigene Suchmaschine werden. Daran führt kein Weg vorbei. Wir leben in der Hyperpublizistik und in der Überdokumentation. Das ist die Folge unseres unendlichenSpeicherplatz-Luxus. Jeder Kleinbürger kann heute sein Leben besser dokumentieren, als Ludwig XIV . es konnte. Da wird viel zuviel aufbewahrt. Aber das sorgt dafür, daß in uns eine Art Terminator zu Leben erwacht, der mit der Ignoranzwaffe um sich schießt und alles liquidiert, was er nicht unmittelbar brauchen kann.
Casimir: Das ist ja eine schöne Aufgabe. Sie hat aber zur Folge, daß uns Terminatoren vieles entgeht.
Sloterdijk: Wir wissen doch, daß die große Mehrheit dazu neigt, unter allen Umständen auch das Beste liegenzulassen, obwohl es in Reichweite wäre. Es gibt zum Beispiel Intellektuelle, die haben Moby Dick nicht gelesen, vielleicht das beste Buch, das jemals gedruckt wurde. Das ist doch sehr komisch, oder? Die meisten Menschen leben mit der ruhigen Überzeugung, daß es Wichtigeres gibt als das Beste.
Casimir: Da soll man wahrscheinlich gar nicht stören …
Sloterdijk (lacht): … dabei kann man nicht stören.
Casimir: Sie bekennen sich zu Jean Paul, dem zufolge Bücher nichts anderes sind als »dicke Briefe an Freunde«. Daß man bei seinen Leser-Freunden Wirkung erzielt, funktioniert doch aber nur, wenn es sich um halbwegs textgehorsame Menschen handelt. Textgehorsam läßt allerdings rapide nach.
Sloterdijk: Die allgemeine Alphabetisierung hat eine Nebenfolge. In dem Augenblick, in dem die Kunst des Lesens und Schreibens eine demokratische Basistechnik wird und nicht mehr eine hierarchisch-sakrale Sonderfunktion ist, tritt so etwas wie die Säkularisierung des Geschriebenen ein, und mit der Zeit auch die Profanierung. Aber selbst nach der Profanierung bleibt immer noch eine gewisse Differenz zwischen dem Autor und dem Leser in Kraft. Und solange diese Differenz psychisch klar verspürt wird, hat das Buch selber genug Erotik und Autorität, um ein Gefälle zum Leser hin aufbauen zu können. Dieser Effekt, daß sozusagen der Autor dem Leser zuvorkommt, gibt dem Buch einen Vorsprung. Das ist und bleibt seine Chance.
Casimir: Aber Freundschaft?
Sloterdijk: Wenn Jean Paul sagte, Bücher seien dickere Briefe an Freunde, benutzte er bereits eine Figur, die die
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