Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
jetzt verdrängt der Finder und Plünderer im monitorialen Raum den städtischen Leser.
Casimir: Dem städtischen Leser des vergangenen Jahrhunderts haben Bücher noch Tiefenblicke in die Welt gewährt. Heute hüten wir uns vor Tiefe und werden überall von der Notwendigkeit zu verstehen entlastet. Da haben Bücher es schwer.
Sloterdijk: Ich glaube, daß die Krise des Buches vor allem mit der Krise der bürgerlichen Persönlichkeit erklärt werden muß. Im humanistischen Zeitalter galt eine verdeckte, aber sehr effektive Gleichung zwischen dem Individuum und dem Buch. Gebildet sein hieß: den Roman seines eigenen Lebens schreiben können – oder geschrieben haben. Der gebildete Mensch konnte die Summe seiner Erfahrungen in einer literarischen Form präsentieren. Das bedeutet aber, daß der Mensch des humanistischen Zeitalters in erster Linie jemand war, der Erfahrungen machte. Dahinter steckt die Vorstellung, daß der Menschum den hohen Preis der Mühe sein eigenes Leben in ein Kunstwerk umwandelt und so erst ein Individuum wird.
Casimir: Das klingt sportiv.
Sloterdijk: In gewisser Weise geht es tatsächlich um eine Versportlichung der Existenz. Der Begriff der Erfahrung ist ein Konzept, das bis in die griechische Paideia zurückreicht. Die Paideia beruht auf der Übertragung des Athletismus auf die Welt der Buchstaben. Der Mensch wird athletisch an die Kandare genommen und zu einem Pan-Athleten der Schriftkompetenz. Das funktioniert auf der Basis einer Verbindung von Stolz und Belastbarkeit. Dafür kannten die griechischen Athleten, aber auch die griechischen Lehrer den Begriff »ponos«. So wie die Philosophen »Freunde der Weisheit« hießen, hießen die Athleten »Freunde der Mühe«. Wenn man so will, ist die Idee vom gebildeten Menschen eine auf dem Athletismus gründende Form der Verherrlichung des Leidens.
Casimir: Aber Mühe macht sich heute keiner mehr so gerne.
Sloterdijk: Was wir heute vor allem in der Computerwelt beobachten, ist der Einbruch der Untrainierten in die Kultur. Am Computer kann die Unfitneß sich als Fitneß ausgeben. Oder das Nichtkönnen als Können. Damit treten eine enorme Entspannung und Verwöhnung ein. Die moderne Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß die Idee der Bildung verschwindet, weil heute niemand mehr bereit ist, die Wegekosten der Bildung, also das Leid für die Erfahrung, auf sich zu nehmen.
Casimir: Die Menschen leiden trotzdem. An der Anstrengung, dumm zu bleiben – mit Odo Marquard gefragt?
Sloterdijk: Die Menschen heute leiden an allem möglichen, aber nicht an der Bildung. Sie leiden zum Beispiel daran, daß sie keinen Job mehr kriegen. Aber die Qualifikationen, die sie für einen Job bräuchten, wollen sie ungern auf dem Bildungsweg erwerben, sondern lieber durch Downloading. Dieses Wort bedeutet ja, daß nicht mehr der Erfahrungssucher zur Wissensquelle geht, sondern daß man das Wissen kommen läßt – so wie man sich eine Pizza nach Hause bestellt.
Casimir: Sie haben selbst eine gewisse Skepsis gegenüber unmäßigen Bildungsmühen. Ihr Rat geht eher in Richtung einer sparsamen Bewirtschaftung unserer kleinen Lichter, die wir Intelligenz nennen.
Sloterdijk: Ja, das ist ganz sicher so. Man beachte den Metaphernwandel: von der Sonne der Aufklärung zu den Kontroll-Lämpchen der elektronischen Systeme. Wir leuchten unser Leben nicht mehr mit dem Flutlicht der Wahrheit aus, wir verlassen uns lieber auf die vielen Kontroll-Lämpchen der alltäglichen Klugheit.
Casimir: Weniger Licht. Also wieder ein großes Entlastungsprojekt?
Sloterdijk: Durchaus! Andererseits gibt es eine neue Form der Bildung, die ich Hyperalphabetisierung nenne, bei der man sozusagen ein zweites Mal lesen und schreiben lernt. Das erste Mal tat man es als Schüler, und das zweite Mal tut man's als Typograph. Es ist tatsächlich so, daß mit dem Computer der alte homo orthographicus überblendet wird von einem neuen homo typographicus , der nicht nur lesen und schreiben lernt, sondern zugleich als Designer seines eigenen symbolischen Erscheinungsbildes tätig wird. Hier kann man sehen, wieso der Computer keinesfalls eine Absage an die Gutenbergsche Tradition darstellt, sondern im Gegenteil ihre Steigerung: Jeder Mensch in unseren Breiten lernt nun lesen, schreiben, drucken und designen.
Casimir: Eine höhere Form medialer Kompetenz?
Sloterdijk: Natürlich! Und das ist einer der Gründe, weswegen man den Computer in einem sinnvollen Trainingsverband mit der Gutenberg-Kultur
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